Abrahams Post 44

EDITORIAL:

Seid Menschen!

„Es gibt kein christliches, muslimisches, jüdisches Blut, nur menschliches.
Seid Menschen! Das ist es, was ich zu sagen habe“, so wiederholt es die inzwischen 102 Jahre alte Schoah-Überlebende Margot Friedländer wieder und wieder.

Wer Mensch ist, kann nicht jüdische Menschen dafür hassen, dass sie jüdisch sind.

Wer zuerst Mensch ist, kann nicht aus Solidarität mit den Palästinensern das, was die Terroristen der „Hamas“ begangen haben, feiern, auch nicht entschuldigen und nicht verharmlosen; und dazu gehört, sich und anderen einreden zu wollen, dass es gar nicht „so“ gewesen wäre, wie es war.

Wer zuerst Mensch ist, kann auch nicht aus Solidarität mit Israel rechtfertigen, welch unvorstell­bares Leid dafür über 2 Millionen Menschen im Gazastreifen gebracht wird – ganz unabhängig davon, ob nicht nur die Dimension, sondern auch die Intention für einen Genozid spricht oder nicht.

Wer Mensch sein will, wird seine Menschlichkeit nicht nach Zugehörigkeit bemessen.

 

Stefan Jakob Wimmer

 


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BERICHTE  –  NOTIZEN  –  TIPPS

Berichte von Veranstaltungen

Nicht ohne Hagar!

zur 2. Manfred-Görg-Gedenkvorlesung von Prof. Dr. Ulrike Bechmann am 16.9.2023
von Stefan Jakob Wimmer

Zum 10. Todestag von Manfred Görg im September 2022 veranstalteten die Freunde Abrahams, die er 2001 gegründet hatte, erstmals eine Manfred-Görg-Gedenkvorlesung. Die Tradition setzen wir fort. 2023 konnten wir dafür Prof. Dr. Ulrike Bechmann gewinnen. Als Schülerin von Görg – sie promovierte 1988 bei ihm in Bamberg –, war sie dafür prädestiniert.

Neben katholischer Theologie hatte sie Islamwissenschaft/Arabistik studiert und war dann von 2007 bis zu ihrer Pensionierung 2022 Professorin für Religionswissen­schaft an der Universität Graz.

Dankenswerterweise konnte die Vorlesung wieder im Auditorium des Staat­lichen Museums Ägyptischer Kunst stattfinden. Am Motiv der Hagar, die in der Konstel­lation mit Sara und Abraham meist am Rande wahrgenommen wird, plädierte Prof. Bechmann dafür, dass „die Anderen“ jeweils dazu­gehören. Sie unternahm einen anschaulichen Gang durch die Rezeption dieser Figur in jüdischer, christlicher und islamischer Tradition und Theologie, mit vielen aktuellen Bezogenheiten und immer wieder Anklängen an die wertvolle Zeit mit Manfred Görg. Eine schriftliche Fassung der Vorlesung ist im neuen Heft der Blätter Abrahams (s. Buchtipp S. 38) zu finden.


Begegnung im Licht

zum Abrahamischen Friedensgebet am 17.9.2023
von Edveta Wimmer

Das Abrahamische Friedensgebet 2023 gab Anlass für einen sonnigen Sommer­sonntag und fand statt am 17. September in lichtdurchlässiger Kulisse der Herz-Jesu-Kirche in der Lachnerstraße/Neuhausen.

Unter dem Motto „Religion ist Begegnung“ begegneten sich Impulse zum Thema aus den drei Abrahamischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, die Referenten Terry Swartzberg, Andreas Renz, Edveta Wimmer sowie alle Teilneh­menden an diesem eindrucksvollen Ort, der alle zu Austausch, Besinnung und Demut inspirierte. Musikalisch begleitet wurde die Veranstaltung durch traditionelle Melodien aus Bosnien und Herzegowina, dem so genannten „Sevdah“, der selbst als Sinnbild des Miteinanders der Religionen in der Region über Jahrhunderte gewachsen ist.

Das gute Wetter mag dem zahlreichen Erscheinen der Freunde Abrahams dieses Mal im Wege gestanden haben; mit ungefähr fünfzehn Anwesenden konnte dennoch Sinn und Zweck der Zusammenkunft erfüllt werden. Wer noch etwas Zeit mitbrachte, wohnte der feierlichen und eindrucksvollen Öffnung der riesigen Kirchenportale um 18:00 Uhr bei.


Es begann im Morgenland, gleich hinter Freimann

Bericht von einem Erzählcafé am 7.1.2024 in der Freimanner Moschee
von Moira Thiele – zu unserem neuen Angebot eines Erzählcafés

Ein Muslim, ein Christ und ein Jude waren zusammen unterwegs auf Reisen. Was fast wie der Beginn eines Witzes klingt oder der eines Märchens, ist eigentlich beides: es ist der Beginn der Geschichte von der Halwa, einer orientalischen Süßigkeit aus Sesam. Die kleine Geschichte hat sich zum traditionellen Beginn für das Erzählen entwickelt, wenn es um die drei Abrahamitischen Religionen geht. Sie ist ein heiterer Türöffner von ehrwürdigem Alter, denn wir verdanken sie keinem Geringeren als dem großen islamischen Mystiker Rumi aus dem 13. Jahrhundert, der bekanntlich selbst wenig Berührungsängste mit den anderen beiden Völkern des Buches hatte.

So begann es auch am Tag nach Heilig Dreikönig. Schon zum dritten Mal trafen wir uns am Beginn eines Jahres im großen, schön hergerichteten Nebenraum der Moschee in Freimann zu Tee und Kaffee, Erzählen und Gesprächen. Geschichten aus der jüdischen, christlichen und muslimischen Tradition dienen dabei auch als Anregung zum Gespräch. Die Geschichte von der Halwa lädt mit ein paar Fragen zum Gespräch ein – Thema ist das Essen im Zusammenhang mit religiösen Festen und Traditionen. Die drei Fragen zu jeder Geschichte, auf buntes Papier gedruckt und auf den 4-er bis 6-er Tischen verteilt, sind nicht etwa Quizfragen, die abgearbeitet werden müssen – sie dienen vielmehr der Inspiration für die eigenen Gedanken, und im Nu ist man im Gespräch und im Austausch. Bei der Halwa-Geschichte sind es Fragen wie „Was hat Essen und Trinken mit religiösen Festen zu tun? Was bedeuten diese Feste für dich? Hast du Feste anderer Religionen miterlebt?“

Eine Frage ergibt neue. Da kommt man zum Beispiel auf das Zuckerfest, also das Ende des Fastenmonats. Warum freust du dich jedes Jahr so sehr auf den Ramadan, obwohl du nicht mal was trinken darfst? – Vom Wert des Fastens in unseren verschie­denen Kulturen kommt man zum Fastenbrechen im Kreise der Lieben, zu unter­schiedlichen Erfahrungen von Familie, Festen, Gastfreundschaft.

Deutlich wird: Was in unserer westlich geprägten Mehrheitsgesellschaft normal ist, ist für Mitbürger*innen mit anderer Ursprungskultur oft gewöhnungsbedürftig, um es milde auszudrücken, und umgekehrt.

Es tut gut, einander zuzuhören, zu verstehen, zu klären, dass es nicht böse gemeint ist, wenn man bei einer Einladung zum Kaffee bei Biodeutschen nach anderthalb Stunden hinauskomplimentiert wird, weil das Abendessen vorbereitet wird. Bei uns undenkbar, sagt die betroffene Muslima.

Doch auch wir haben bei unseren Gesprächen einem Zeitrahmen zu folgen, schon weil einige der Muslime später nach nebenan in die Moschee zum Nachmittags­gebet wollen. Und man ist ja auch hier, um noch mehr Geschichten zu hören. Die meisten der Märchen stammen aus der arabischen oder jüdischen Tradition, und so heißt der Titel des Nachmittags: „Es begann im Morgenland“.

Aber lässt sich die Herkunft einer Geschichte genau bestimmen? Nein, Geschichten sind schon immer mit den Menschen über die Erde gewandert und ließen sich von keinen Grenzen aufhalten, weder von denen der Länder noch der Kulturen. Ist die Geschichte vom „Wunder des Granatapfelkerns“ eine jüdische, eine arabische, oder hat sie gar einen christlichen Hintergrund?

Dieses Märchen aus Andalusien wurde als zweite Geschichte erzählt, sie handelt von einem armen Juden, dessen Mut und Klugheit ihm das Leben rettet und den harten Kalifen beeindruckt – Gerechtigkeit siegt über das Recht, Erbarmen über Strenge, Selbsterkenntnis über selbstgerechte Verurteilung, auch wenn dem Wunder, von dem die Rede ist, etwas nachgeholfen werden muss.

Hier bietet sich jede Menge Gesprächsstoff, wie auch in der dritten und letzten Geschichte aus Marokko, von der bunten Glaslaterne, die für jeden, dem sie geschenkt wird, einen anderen Wert hat. Was macht ein Geschenk zu einem guten Geschenk? Was bedeuten Geschenke in deiner Tradition, wie geht man damit um? Gibt es feste Regeln oder zählt die gute Absicht?

Das Schöne an diesem Begegnungsformat: es ist organisatorisch einfach und es funktioniert!

Das beweist das halbe Dutzend Erzähl- und Dialogcafés in München, bei denen ich die Ehre und die Freude hatte, zu erzählen. Alles, was man braucht, ist: ein Raum, jemanden, der Geschichten erzählen kann, ein bis zwei größere Emailverteiler zum Einladen sowie Tee, Kaffee und Gebäck. Schöne Deko auf Bühne und Tischen, ein üppiges Kuchenbuffet und ein liebenswürdiger Oud-Spieler wie in Freimann sind nur das Sahnehäubchen, um im Bild zu bleiben.

Und ganz offensichtlich erfüllen diese Nachmittage bei allen, die gekommen sind, ein Bedürfnis. Denn um was geht es bei dieser Verbindung von Geschichten und Gesprächen? Wir können Brücken bauen, einander wirklich kennen lernen. In den Schuhen des andern gehen. Gemeinsamkeiten entdecken und feiern, unsere Unterschiede aushalten und respektieren, sie als Stufen zum eigenen Lernen und Wachsen begreifen. Ein fröhlicher Kurs in Wertschätzung, der in Erinnerung bleibt.

Die in Amerika lebende israelische Erzählerin Noa Baum, seit Jahrzehnten weltweit interkulturell, interreligiös und für einen gerechten Frieden aktiv, bringt die verbin­den­de und heilende Wirkung des Geschichtenerzählens so auf den Punkt:[1]

„Man erhascht einen Blick in eine andere Welt, bekommt einen Einblick, der weiter und tiefer ist, als du ihn jemals bei einem Meeting gehabt hättest oder sogar bei einem sozialen Austausch. Dieses Gefühl von Nähe und Vertrauen wird nicht nur durch den Inhalt der Geschichte geschaffen, sondern vor allem durch das Erleben, dass man im selben Raum vereint ist, seine Erfahrung teilt, zuhört und selbst gehört wird. Das macht das Geschichtenerzählen besonders. Durch dieses Zusammensein am selben Ort, zur selben Zeit, erfahren wir unsere Verbindung als Menschen, und etwas verändert sich.“ Und sie ist sich sicher: „Ohne persönliche Verbindungen – ohne die Geschichten, die Vorurteile und Wahrnehmungen verändern können – gibt es keine Chance für uns. Ich glaube daran, dass die Wandlung der Sichtweise durch Geschichten zu dem Fundament gehört, auf dem der Weg zum Frieden gebaut wird.“

Vielleicht beginnt dieser Weg ja manchmal ganz einfach mit Tee, Gebäck, ein paar Geschichten und Gesprächen.

P.S. Wer wissen will, ob es der Muslim, der Christ oder der Jude ist, der am Ende die Halwa bekommt, möge sich jederzeit an mich wenden. Ich erzähle die Geschichte gerne, sie kommt immer gut an, zumal ich das, worum es geht, immer zum Probieren mitbringe. Sesam-Halwa klassisch mit Vanille – oder lieber marmo­riert mit Kakao?

[1] Zitate übersetzt aus: Noa Baum, A Land Twice Promised, Familias, ISBN 978-1-942934-49-3, Seite 236 und Seite 260 a.a.O. Da das Buch nicht auf Deutsch erschienen ist, ist dies hier meine eigene Übersetzung.


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Nachrichten aus München

Ein offener Brief zum Projekt Haus der Kulturen und Religionen München

Im Haus der Kulturen und Religionen München mit seinem vorläufigen Standort in der Nazarethkirche in Bogenhausen sind die Freunde Abrahams gut vernetzt, schon viele unserer Veranstaltungen konnten dort stattfinden. Im Dezember 2023 schaltete das HdKRM eine Werbe- und Informations­kampagne, die auf den Info-Screens in U-Bahnhöfen zu sehen war. Gleichzeitig wurde ein „offener Brief“ veröffentlicht, mit dem um Unterstützung des Projekts geworben wird. Wir geben den Wortlaut hier wieder:

Liebe Münchner*innen!

Vielleicht haben Sie in den vergangenen Tagen beim Warten in der U-Bahn Bilder von Menschen mit einem aus Holz gefertigten Schlüssel gesehen. Das waren wir – ehrenamtlich Engagierte des HdKRM e.V. – und unsere Fundraising-Aktion für das Haus der Kulturen und Religionen München.

Unser Projekt, Räume gemeinschaftlich als Moschee, Synagoge, Kirche und Tempel, für Meditation, Kulturveranstaltungen und Vorträge zu nutzen, verbindet Menschen. Wie Kathedralen und Tempel drückt unser Haus die Sehnsucht nach einer gemein­samen menschlichen Mitte aus, nach fried­vollem Miteinander. Es begegnen sich im Glauben feste Traditionelle, liberale Moderne, Säkulare, Schwan­kende, Suchende oder Entwurzelte. Seit Jahren arbeiten wir an dieser Vision: einen Begegnungsraum schaffen, an dem kleine und große Gruppen von Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit unter­schiedlichen Hintergründen, Religio­nen und Kulturen sich finden und aus­tauschen können.

Uns geht es darum, den Zusammenhalt in unserer Stadt zu fördern. Wir wollen ge­mein­same Werte leben, unabhängig von der religiösen Orientierung. Neben Han­no­ver und Berlin sollte auch München ein Haus der Kulturen und Religionen behei­maten. Die Kombination eines interreligiösen Studienganges, gemeinsamen Lebens im Wohnheim und kultureller interreligiöser Veranstaltungen ist Alleinstel­lungs­merk­mal unseres Münchner Projekts.

Was braucht es dazu? Räume für die Religionen, das College of Interreligious Studies, Gastronomie, den vorhandenen Kindergarten, Sitzungs- und Büro­räume und einen Saal.

Nach einer Tagung 2019 im Saal des Alten Rathauses, zu der wir Vertreter sechs ähn­licher Projekte aus der ganzen Welt eingeladen hatten, wurde uns die Naza­reth­kirche in Bogenhausen für einen ersten Versuch angeboten. Mögliche Umbau-Visionen entwickelte eine Masterklasse für Architektur. Die Studierenden zeigten uns auf, was mit dem Baubestand der denkmal­geschützten Kirche alles möglich wäre.

Mehrere Teams (siehe hdkrm.org) arbeiten schon an der Raumplanung, am Fund­raising und am Programm. Das College ist in Betrieb und derzeit im Kloster St. Boni­faz untergebracht. Doch um das Gebäude anmieten und die Kirche umge­stalten zu können, bedarf es weiterer finanzieller Mittel. Mit Vorbehalten wurde uns in gewis­sem Maße die Unterstützung der Stadt München und der Religionsgemein­schaften in Aussicht gestellt. Die Anfragen dazu laufen noch.

Wir bitten nun die Entscheidungsträger und Stiftungen, sich mit der Idee noch inten­si­ver auseinanderzusetzen. Unser Verein allein wird das Projekt nicht umsetzen kön­nen. Nur das koordinierte Miteinander von Crowdfunding, Stiftungen, öffentlicher Hand und Einzelspendern kann das. Unsere Aufgabe als Verein ist es, die Vision zu kommunizieren und die Planung voran­zubringen.

Wenn Sie das Projekt unterstützen möchten, können Sie dies über direkte Mitarbeit oder eine Spende (hdkrm.org) tun. Es ist ein Graswurzel-Projekt – vielleicht ja auch Ihres?

Haus der Kulturen und Religionen

Mit ganz herzlichem Gruß
der Vorstand des HdKRM e.V.

Vorstandsvorsitzende:
Prof. Dr. Martin Rötting (christl.), Eva Haller (jüd.), Gönül Yerli (musl.)

 


„Stoppt diese Religion!“ ?

von Stefan Jakob Wimmer

„Reinhard Kardinal Marx hat nachgedacht: die bemerkenswerte Wende des Kardi­nals Marx“, „Früher Migrationsfan, jetzt Islamkritiker“, „Vom Saulus zum Paulus“ – solche und noch sehr viel despektierlichere Äußerungen waren am 24. Dezember 2023 auf dem extrem rechtspopulistischen und islamfeindlichen Hetzportal pi-news zu lesen. Was war geschehen? Im Magazin Focus sollte ein vorab schon bekannt gewordenes Interview mit dem Erzbischof von München und Freising zur aktuellen Weltlage erscheinen, in dem der Kardinal islamischen Geistlichen vorwarf, Terror zu rechtfertigen. In dem Zusammen­hang sagt er dann wörtlich: „Wenn eine Religion Gruppen wie die Hamas unterstützt, dann wird sie Teil des Problems. Dann kann ich nur sagen: Stoppt diese Religion!“ Die letzten drei Worte des Zitats wählte der Focus für den Titel des Beitrags.

Nun spricht Kardinal Marx im Interview auch die Unter­stützung des Putin-Krieges gegen die Ukraine durch den orthodoxen Patriarchen von Moskau an und fordert: „Dabei sollten alle Religionen ihrem Wesen nach doch Instrumente des Friedens sein.“ Seine Unterstützung des interreligiösen Dialogs, der vor allem auch Papst Franziskus ein brennendes Anliegen ist, ist seit vielen Jahren bekannt. Und gerade deshalb war die Formulierung so, wie sie in dem Wortlautinterview (das freigegeben werden musste) steht, so anstößig. Sie löste nicht nur Beifall von Richtungen aus, gegen die sich die Katholische Kirche entschieden wendet; sie verletzte und verstörte vor allem auch viele Menschen, nicht nur Muslime. An anderer Stelle im Interview heißt es wörtlich: „Der grundlegende Gedanke von Judentum und Christentum ist der Monotheismus“ – womit der Islam hier ausgeschlossen würde. Wir wandten uns daher mit einem Schreiben (5.1.2024) an den Kardinal und baten um rasche Klärung. Darin heißt es in Auszügen (der vollständige Brief ist hier abrufbar: https://www.freunde-abrahams.de/wp-content/uploads/2024/01/KMarx050124.pdf)

„Ihr Aufruf, als sehr hoher katholischer Würdenträger, eine andere Religion ‚zu stoppen‘, würde in der Tat ganz klar die Grenze zu offener Islam­feind­lichkeit überschreiten, welche nicht unterscheidet zwischen berechtigter Kritik am Miss­brauch von Religion und der Religion selbst. Bitte unterstellen Sie nicht, dass Ihre Worte hier falsch verstanden worden wären; sie wurden falsch formuliert.

Als Gesellschaft Freunde Abrahams sind wir über die hier verursachte Kränkung all jener Muslime, die ihre Religion nicht missbrauchen, entsetzt. Wir distanzieren uns davon in aller Form und rufen Sie und das Erzbistum München und Freising dazu auf, rasch und glaubwürdig klarzustellen, dass das so nicht gemeint sein kann.

(…) Wir erleben gerade jetzt eine Zeit, in der wir den Dialog miteinander intensivieren müssen, nicht abbrechen. In der wir aufeinander zugehen, nicht aufeinander losgehen müssen.“

Am 12.1.2024 antwortete Kardinal Marx und erklärte, dass er die Formulierung nicht pauschal auf den Islam verstanden haben möchte, und bekennt sich zum interreligiösen Dialog. Wir geben das Schreiben hier vollständig wieder (auch unter
https://www.freunde-abrahams.de/wp-content/uploads/2024/01/AW_Wimmer_240112.pdf):

Sehr geehrter Herr Prof. Wimmer,

vielen Dank für Ihren Brief vom 5. Januar. Ich bedaure es sehr, wenn mein Inter­view für den „Focus“ zu Irritationen und Verletzungen geführt hat. Mein Anlie­gen und die Hauptaussage des Interviews waren die Verurteilung der Instrumentalisie­rung von Religion und Gewalt, Terror und Krieg. Dies bezieht sich, wie aus dem Interview deutlich hervorgeht, nicht nur auf Strömungen und Personen in der islamischen Religion. So ist in der ersten Hälfte des Interviews ausschließlich vom Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine die Rede, der vom russisch-orthodoxen Patriarchen theologisch unterfüttert wird. Die plakative Überschrift „Stoppt diese Religion“, die der „Focus“ gesetzt hat und auf die ich keinen Einfluss hatte, bezieht sich somit klar auch auf diesen Teil des Interviews. Dies wird im weiteren Verlauf meiner Äußerungen auch sehr deutlich: Auf die Frage, ob sich diese Aussage „Stoppt diese Religion“ auch auf andere Religionen beziehe, antworte ich unmiss­verständlich, dass sich dies auch auf christliche Formen des Fanatismus und Extremismus bezieht, und davor steht die Aussage: „Religionen werden für ideolo­gische Zwecke eingesetzt“.

Im Hintergrund meiner Überlegungen steht zudem eine Problematisierung des Religionsbegriffs überhaupt: Jede Religion verfehlt ihr eigentliches Wesen und ihren Auftrag, wenn sie Gewalt legitimiert. Eben darin liegt die wichtige Unterscheidung zwischen einer berechtigten und notwendigen Kritik an bestimmten Ausformungen einer Religion und der Religion selbst. Leider aber ist es so, dass nach dem Massaker vom 7. Oktober von hochrangigen islamischen Geistlichen weltweit eben sehr wenig Verurteilung, sondern eher Zustimmung und Unterstützung geäußert worden ist, was die islamische Religionsgemeinschaft insgesamt in ein schlechtes Licht rückt und den Wert von Dialogerklärungen der letzten Jahre wie die von Abu Dhabi radikal in Frage stellt.

Die Frage, ob ich dem Islam den Monotheismus absprechen wollte, entbehrt jeglicher Grundlage und kann nur in aller Deutlichkeit verneint werden. Für die katholische Kirche ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Anerkennung des Islam als monotheistische Religion verbindliche Lehre (LG 16, NA 3). In dem betreffenden Zitat im Interview ist die Rede vom christlichen Gebot der Feindes­liebe. Da dieses jesuanische Gebot nicht ohne den jüdischen und gesamt­biblischen Hintergrund verstanden werden kann, ist hier eben nur vom Judentum und Christentum die Rede.

Dass öffentliche Äußerungen von manchen auch falsch verstanden werden können oder bewusst für eigene Anliegen missbraucht werden können, lässt sich leider nie ganz ausschließen. Das Interview als Ganzes jedoch lässt eine islamfeindliche Interpretation nicht zu, vor allem nicht auf dem Hintergrund meiner Äußerungen in den vergangenen Jahren etwa in der Zeit der Fluchtmigration aus islamischen Ländern, zu denen ich auch heute noch stehe. Auch stehen ich und die katholische Kirche nach wie vor zur Selbstverpflichtung des interreligiösen Dialogs mit Partnern, die Gewalt und Terror klar verurteilen.

Ich hoffe, ich konnte damit die bei Ihnen entstandenen Irritationen ausräumen und wüsche für Ihre Bemühungen in der interreligiösen Verständigung weiterhin viel Erfolg und gutes Gelingen.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr (gez.) Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising

Wir sind dem Kardinal für seine klärenden Worte dankbar und wissen sie zu schätzen! Sie müssten nun freilich ebenso öffentlich bekannt werden, um an die Betroffenen zu gelangen, wie das Interview selbst.


Die Münchner Stiefkindl

von Edveta Wimmer

Sie kamen in den siebziger Jahren. Andersartige Persönlichkeiten – die Muslime – zumindest der Großteil. Sie kamen zum Arbeiten. Gastgeber und so genannte Gastarbeiter wollten dabei – wohl einvernehmlich – lediglich eine befristete Zweck-Nutzen-Beziehung eingehen. So lebte jahrzehntelang jeder für sich mit aller Unver­bindlichkeit und dem geringst notwendigen gemeinsamen Nenner. Auf emotionaler Ebene blieb deswegen eine Auflösung der Beziehung jederzeit eine tröstliche Option für beide – wenn nicht … Wenn nicht bereits in zweiter Generation Kinder aus dieser Beziehung hervorgegangen wären. Die Münchner Stiefkindl. Ungeplant und in Lieblosigkeit gezeugt hangeln sie sich am wirklich schmalen Grat der scheinbar wenigen Gemeinsamkeiten ihrer Erzeuger – „Gastgeber“ und „Gast­ar­beiter“ – durch den Alltag, im stetigen Bemühen, das Unvereinbare in Einklang zu bringen. So wohnen sie, wie alle anderen Münchner, selbstverständlich dem wöchentlichen Weißwurstverzehr an ihrer Arbeitsstätte bei, mit dem Unterschied, dass deren Weißwurst in einem extra Muslimtopf und in Putenfleisch- und Kunst­darm-Version aufgetischt wird. Ihr Dasein in dieser Stadt hat tatsächlich viel mit der Existenz der Putenweißwurst im Kühlregal gemeinsam. Aufgrund der Nachfrage ist sie zum Dauersortiment in der Wursttheke „aufgestiegen“, aber eine richtige Weiß­wurst ist sie nicht, und bei drohendem Platzmangel würde sie als erste aussortiert. Die Aussicht zur Anerkennung als solche wird nicht mal in Erwägung gezogen, zumindest nicht von den eingefleischten Weißwurst-Verzehrern. Tatsächlich sind diese nicht in der Lage, Verständnis für Abwandlung der Gewohnheiten auf Kosten des Ge­schmacks aufzubringen. Großzügig dagegen sind sie mit Beileidsbekun­dungen zur verpassten Gelegenheit. Unvorstellbar scheint der Gedanke, sich nicht nur der Weißwurst, sondern und vor allem des echten Münchner Biers freiwillig entziehen zu wollen. Auf der anderen Seite wirken kultur-religiöse Kräfte des Eltern­hauses, die nicht einfacher oder konfliktfreier die Identität vereinnahmen oder ausgrenzen.

Eine Entscheidung für die eine oder andere Seite scheint die einfachste Lösung zur Entzerrung dieses identitären Oxymorons und des damit für die Gesellschaft unangenehmen kulturellen Fauxpas‘. Übersehen wird die Tatsache, dass diese Kinder keine emotionslose Zweckbeziehung zu ihren Erzeugern eingegangen sind. Sie haben keinen Plan B, eine Trennung ist keine angenehme Option. Vielmehr sind sie Teil und Chance der gesellschaftlichen Entwicklung. Als geübte Gratwanderer sind sie geradezu prädestiniert, eine Zukunft samt ihren Herausforderungen in Vielfalt mitzugestalten.

Zum Glück sind die Muslim-Stiefkindl nicht die einzigen, die an der Kulturidylle am Weißwurstäquator rütteln. Vegetarische, vegane, glutenfreie, eiweißfreie, koschere und Ayurveda-Weißwurste drängen auf den Markt. Das alkoholfreie Bier ist jetzt schon der Verkaufsrenner. Als Visionärin sehe ich den bayerischen Ministerpräsiden­ten eines Tages eine Tofuwurst umarmen, weil uns allen als Gesellschaft das Tierwohl wichtiger wird als unsere Völlerei … Inschallah.

Salaam, Schalom, Grüß Gott.


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Blick über den Tellerrand

An meine jüdische Schwester

von Edveta Wimmer

Ich habe gehört, dass du dich in München nicht mehr sicher fühlst. Das ist so furchtbar, furchtbar schrecklich und darf einfach nicht sein! Nicht in dieser Stadt, deren Luft immer noch vom Grauen des nationalsozialistischen Mordens mit Leid übersättigt ist. Es lässt mir keine Ruhe! Ich will dir beistehen, dich beschützen und für dich einstehen! Ich will mit dir unsere Zukunft und diese Stadt gestalten, denn es kann nur eine schöne Stadt und eine schöne Zukunft werden, wenn wir es zusammen machen. Das sehe ich so klar wie den lichten Tag. Die Tage gerade sind trüb und dunkel, nicht weil der Winter naht, sondern weil sich die Menschen voneinander entfernen. Sie reden nicht miteinander und schließen sich aus, und je weniger sie reden, desto mehr wächst Angst, Misstrauen und Entfremdung. Mir scheint, als ob wir alle in den Sog eines sich aus Trübsal, Trauer, Angst, Entsetzen und Hass nähren­den Drachens geraten sind, der Tag um Tag größer wird. Wie oft hat dieser Drache unsere Stadt wohl schon heimgesucht? Wie oft haben es die Menschen geschafft, ihm Einhalt zu gebieten und wie oft nicht?

Ich bin traurig, dass du mit deiner Angst, deiner Trauer und deinen Sorgen nicht zu mir kommen konntest. Weißt du, ich werde selbst von furchtbaren Bildern überflutet, die mir den Atem rauben und mich lähmen; sie lähmen mich so sehr, dass ich dich und deinen Schmerz gar nicht sehen kann. Diese Bilder dringen in die tiefsten Winkel meiner Seele und fordern Stunde um Stunde von mir, etwas zu tun, da ansonsten mein Menschsein auf dem Spiel steht. Kennst du so ein Gefühl?

Ich versetze mich Stunde um Stunde in das Leid von Gaza und der Mutter, die ihrem toten Kind ins Ohr flüstert, des Vaters, der die Überreste seines Kindes in Tüten trägt. Kannst du verstehen, wieso mich diese Bilder lähmen und fordern?

… und die Rattenfänger schlafen nicht!

Und dann versetze ich mich in das Leid, in die Angst der israelischen Angehörigen der Geiseln. Ich mache mir Sorgen, wenn mein Sohn sich mal zwei Stunden nicht meldet. Welche Ängste müssen die Mütter der Entführten haben? In die Angst der Geiseln selbst. Ich versetze mich in alle Angehörigen der Opfer des 7. Oktober und danach. Ich traue mich aber nur mit einem winzigen Schritt in diese Gefühle hinein, weil ich fürchte, mehr nicht tragen zu können.

… und die Rattenfänger schlafen nicht!

Vor diesem Unglückstag habe ich das Buch „Apeirogon“ von Colum McCann gelesen. Es beschreibt das Leben zweier Väter, eines Palästinensers und eines Israelis, nach dem Verlust ihrer Kinder. Eines kam durch ein Selbstmordattentat und das andere durch ein Gummigeschoss aus dem Gewehr eines jungen Soldaten ums Leben. Die beiden Väter fanden zueinander und richteten seitdem ihre Kraft und ihr Wirken auf die Versöhnung und den Frieden, trotz oder wegen und mit der Schwere dieses Schicksals. Wie geht es diesen beiden Menschen gerade? Haben sie seit dem 7. Oktober aufgegeben, sind sie zusammengebrochen? Und nun gibt es Tausende und Abertausende Väter und Mütter mehr, die um ihre Kinder trauern, die für den Rest ihres Lebens diesen Zustand ertragen müssen! Was wird aus ihnen? Werden sie, so wie die beiden Väter im besagten Buch, auch für Versöhnung und Frieden eintreten, vereint im gleichen Schmerz? Werden sie gegeneinander kämpfen, in Wut und Verzweiflung, und damit noch mehr Opfer fordern?

Was wird aus meiner Freundin Irit, die ihr Leben lang das Lieben gemieden hat, um nicht eines Tages eine Nachricht über den Tod eines geliebten Menschen erhalten zu müssen. Eine Nachricht, die sie als junge Wehrpflichtige während des Libanon-Krieges 1982 immer wieder an Angehörige zu tragen hatte. Diese 1,50 m große Frau stellte sich vor ein paar Tagen vor einen Soldaten und rügte ihn für unhöfliches Verhalten gegenüber einem arabischen Bettler.

Was wird aus meiner Freundin Amal, einer Frau, die schier unendliche Geduld ausstrahlt und sich ein Leben lang, trotz oder wegen aller widrigen Umstände und Widerstände, für ein Miteinander von Muslimen und Juden in der Stadt Jerusalem einsetzt – sie sagt, ihr fehle gerade die Kraft…

… und die Rattenfänger schlafen nicht.

Du siehst, was mich gerade vereinnahmt. Ich bin mir sicher, dass auch du viel zu erzählen hast.

Diese schlimmen Ereignisse und Bilder fordern uns allen etwas ab! Wir sind so weit entfernt vom Ort des Geschehens, dass wir von hier aus scheinbar nichts tun können. Ich denke, es verschafft den Menschen zumindest etwas Erleichterung, wenn sie Stellung beziehen, Partei ergreifen, ihre Stimme erheben und auf die Straßen gehen … Und unglücklicherweise gehen manche dann noch weiter – so dass du dich dadurch nicht mehr sicher fühlst …

… und die Rattenfänger schlafen nicht.

Die Menschen spalten sich und der Drache wird genährt.

Ich will und kann aber für keine Seite Partei ergreifen, da ich eine Irit und eine Amal kenne, die beide ein Recht auf ein sicheres Zuhause und ein Dasein in Würde haben. Ich will keine Partei ergreifen, da parteiisch sein in diesem Fall seit so vielen Jahren nicht zum Frieden beigetragen hat.

Ich ergreife keine Partei, da mich mein Heiliges Buch, der Koran, mit einem Gleich­nis warnt: Der böse Pharao wiegelt sein Volk gegeneinander auf, indem er sie in Parteien spaltet. Es lehrt mich auch, dass jedes Leben heilig ist und jeder Mensch eine eigene Welt in sich trägt. Dass die Vielfalt der Schöpfung Gottes heilig ist, und dass wir darin eine Aufgabe haben, die aus unserer Sicht manchmal unlösbar zu sein scheint – es aber nicht ist – wenn wir Gottes Wort richtig verstehen wollen.

Ich bin so wütend! Auf vieles bin ich wütend, doch am meisten auf die, die sich auf mein Heiliges Buch berufen, um Unheil zu stiften, um politische oder sonstige Ziele zu erreichen. Nein, sie entstellen nicht das Wort, weil es vielseitig verstanden werden kann und darf, sie pervertieren es vorsätzlich zu einer widerlichen Fratze, um es auf der Bühne eines Schmierentheaters der Welt vorzuführen – seit so vielen Jahren schon. Viele Akteure sind sich dessen selbst nicht bewusst.

… und die Rattenfänger schlafen nicht.

Wo soll ich hin mit meiner Seele? Wo findest du Halt in dieser Zeit?

Wollen wir gemeinsam gehen? Ich stehe für dich ein, und du stehst für mich ein. Gemeinsam können wir hier und jetzt aufeinander achten und für alle einstehen, deren gottgegebene Rechte und Würde durch Kleingeister und „kindliche Gläubige“ bedroht werden – denn Drachen suchen sich immer die schönsten Städte, um sie zu verschlingen …

… und die Rattenfänger schlafen nicht.

Edveta Wimmer, Oktober 2023


120 Tage

von Stefan Jakob Wimmer

Am Samstag, 7. Oktober 2023 entgleiste das Leben. Am Tag davor steckte ich tief in den Vorbereitungen mit Freunden in Beer Scheva für unsere Reise in „Abrahams Stadt und Land“, die die „Freunde Abrahams“ Ende Oktober nach Israel/Palästina hätte führen sollen. Dass diese Planungen nicht weitergehen konnten, war in Minuten­schnelle klar. Den Samstag verbrachte ich in Kontakt mit israelischen und palästinensischen Freunden, die, wie ich, über ihre Medien Unvorstellbares live vermit­telt bekamen. Am Sonntag­morgen versuchte ich, Gedanken zu ordnen, um für die Freunde Abrahams etwas dazu sagen zu können. Noch am Vormittag wurde diese Stellung­nahme versandt:

Nicht durch eine Naturkatastrophe, sondern wieder einmal in den Köpfen von Menschen geplantes und durch die Hand von Menschen verursachtes, unermess­liches Leid für Leib und Seelen von Menschen. Fassungs­los und voller Schmerz verfolgen wir, was in dem Land, das auch uns sehr am Herzen liegt, geschieht und können nicht begreifen.

Unsere Solidarität gilt – wie schon immer – all den unschuldigen Opfern dieses Konflikts. Unerträglich ist uns, wenn sogar hier in Deutschland Freudenbekundun­gen von Hamas-Sympathisanten geäußert werden (wie eben berichtet wird). Hunderte Tote – und zu befürchten ist, dass noch viele folgen – und immer noch mehr Leid sind, weiß Gott, keine angebliche „Rettung der Ehre von Al-Aqsa“ – wie Hamas diese Verbrechen begründet. Sie müssen vielmehr endlich dazu beitragen, dass auch Palästinenser und Muslime überall zwischen legitimem Einsatz für die eigenen Rechte und Verbrechen an Unschuldigen unterscheiden.

Dass Palästinenser nicht hinnehmen, was sie seit 75 Jahren erleben, kann niemand verurteilen. Die aktuelle Regierung in Israel hat – noch deutlich schlimmer als schon Regierungen zuvor – gezielt und bewusst durch Worte und Taten provoziert und nahezu täglich Blut vergossen. Dennoch haben zu Viele – auch in Deutschland – dazu geschwiegen. Viele haben es nicht gewagt, das Nötige dazu (wenigstens) offen auszusprechen, weil schon viel zu oft der Antisemitismusvorwurf politisch missbraucht wurde und wird, gegen jede Form von Kritik an Israel.

Der Kampf gegen Antisemitismus aber ist – wie wir doch in Deutschland tagesaktuell erleben (wie viele Stimmen werden heute „AfD“ und „Freie Wähler“ in Bayern ernten?!)[1] – zu bedeutsam und zu drängend, als dass wir diesen Missbrauch für extremistische Politik zulassen dürfen. Jüdisches Leben in Deutschland, offen, frei und ungehindert, muss in jeder Form geschützt und unterstützt werden; nicht die Politik Israels in jeder Form.

Wir sind heute (wie schon immer) solidarisch mit Israel, wenn es Opfer von sinnloser Gewalt ist und seine Existenz als jüdischer Staat in Frage gestellt wird.

Und wir sind heute (wie schon immer) solidarisch mit den Palästinensern, wenn sie Opfer von sinnloser Gewalt sind und ihre Freiheit, ihre Rechte und Menschenwürde negiert werden.

Treten wir – weiterhin und jetzt ganz besonders – für Beides ein; nur dann können wir authentisch sein.

Hoffen wir, dass die Wucht dieser Erschütterung zu einem Umdenken führt, auf beiden Seiten, und wo nötig auch bei uns.

Beten wir mit denen und für die, die jetzt und in den bevorstehenden Tagen (und wohl auch Wochen) betroffen sind. Was sie erleben, können wir uns nicht vorstellen.

Kontext und Antisemitismus

Es kam sehr viel Zuspruch dazu, und bis heute melden sich Stimmen, die dankbar hervorheben, dass hier nicht einseitig eine Positionierung für Israel und gegen die Palästinenser oder umgekehrt gefordert wird – denn das, so wird leider zu Recht bemerkt, sei sehr selten öffentlich zu hören. So kamen denn auch sofort Stimmen, die mich erschreckten: Die Stellungnahme verbreite falsche Tatsachen, falle auf palästinensische Propaganda herein und gebe Israel eine Mitschuld. Zu der Fas­sungs­losigkeit über diesen von der so genannten „Hamas“ gestarteten Krieg (ich halte „Terror“ hier für eine Verharmlosung; Terroranschläge hat die „Hamas“ immer wieder verübt, seit es sie gibt – was am 7. Oktober verübt wurde, hat eine andere Dimension, für die im Nahostkonflikt noch die Begrifflichkeit fehlt) kommt zusätzlich hinzu, dass von öffentlichen Seiten – von den Vertreter*innen der Landeshauptstadt, aber auch des Landtags und der bayerischen Staatsregierung, dann auch auf Bundesebene und von vielen Medien – eingefordert wurde und teilweise immer noch wird, dass der Kontext des Geschehens nicht angesprochen werden dürfe! Selbst UNO-Generalsekretär Guterres wurde, weil er nicht nur den „Hamas“-Terror aufs Schärfste verurteilte, sondern zudem denkbar vorsichtig formuliert die Tatsache ansprach, dass das Geschehen „nicht in luftleerem Raum“ erfolgt sei, „Terrorunter­stützung“ vorgeworfen … Das Wort „Kontextualisierung“ ist zu einem neuen Werk­zeug in der tool box des vorgeblichen Kampfes „gegen jeden Antisemitismus“ geworden.

Die zweifellos reale Bedrohung durch das iranische Regime wird heran­gezogen. Vergleiche sogar mit den Verbrechen der Nazis, mit dem Holocaust (! – Vergleiche, die sich sonst in jeder Form verbieten) werden herangezogen. Dass aber der Israel-Palästina-Konflikt seit über 100 Jahren Gewalt und Gegengewalt generiert, soll mit dem 7. Oktober nichts zu tun haben dürfen? Es soll „antisemitisch“ sein, jetzt darauf hinzuweisen, dass die Palästinenser seit 75 Jahren entrechtet werden, dass ihnen von der aktuellen Regierung, die auch in Israel als „monströs rechtsextrem“ be­schrie­ben wird, nicht nur jede Perspektive auf eine friedliche und gerechte Lösung, sondern sogar ihre Existenz als palästinensisches Volk abgesprochen wird? Anti­se­mitismus ist in grauenhaftem Ausmaß Zündstoff für Hass, Gewalt und Terror von Palästinensern gegen Israel, und von da aus auch von Muslimen und anderen gegen Juden in Deutschland und weltweit. Deren Ursache aber ist ihre anhaltende Entrech­tung, die Demütigung und Gewalt, die sie seit Generationen erleben.

Wer aber die Ursache nicht benennt, befeuert den Konflikt – und damit den Antisemitismus. Das ist vielen Menschen offenbar bewusster, als denen, die regelmäßig beklagen, dass Aufrufe zu Solidaritätskundgebungen mit Israel nicht den erwarteten Zuspruch erhalten, und dass Jüdinnen und Juden in ihrer Trauer und ihrer Sorge vor bedrohlich gewachsenem Antisemitismus von der Breite der Gesell­schaft allein gelassen werden würden.

Unterstützung hier – Ausgrenzung dort, ohne Wenn und Aber?

Wir haben nicht verstanden, warum nach dem 7. Oktober Kundgebungen entweder Solidarität mit Israel „ohne Wenn und Aber“ und die Perspektive „der anderen“ totzuschweigen einforderten, oder aber den Gazakrieg anprangerten, ohne dessen Ursache zu benennen und zu verurteilen. Wir waren auch erschrocken darüber, wie inmitten dieser Polarisierungen andere Kriege aus unserer Wahrnehmung verdrängt wurden.

Wir mussten auch erleben, wie Muslime in München und darüber hinaus nach ihrer Religionszugehörigkeit angegangen wurden. Sofort nach dem 7. Oktober wurden mutige muslimische Stimmen laut, nach innen wie nach außen; in den Moscheen wurde von den Kanzeln gepredigt, gegen „Hamas“ und für den Schutz von Synago­gen und jüdischem Leben. Und dennoch wurde und wird noch immer eine mangelnde Distanzierung und Solidarisierung von Muslimen in den Raum gestellt! Selbst im „Rat der Religionen“ (dem wir angehören), einem Gremium, das dafür geschaffen sein sollte, in Krisensituationen wie diesen die Kommunikation und den inneren Zusammenhalt zu gewährleisten, wurde intern nach Religionszugehörigkeit eingefordert und vorgegeben, was Muslime zu äußern hätten und was nicht – andernfalls ihnen unterstellt wird, sie unterstützten Terror und verweigerten Israel die Anerkennung. Derselbe Rat der Religionen hatte zwei Tage vor dem 7. Oktober ein sehr schönes „Friedensgebet der Religionen“ vor dem Dom veranstaltet. Als Münchner Muslime von sich aus für den 6.11. ein gemeinsames, öffentliches Gebet auf dem Marienplatz zusammen mit jüdischen und christlichen Religionsgemein­schaften anregten, wurden sie auch damit extremistischer Absichten bezichtigt, sodass das Gebet, das unter Schirmherrschaft des OB gestanden hätte, abgesagt wurde. Die Erschütterung und damit der Schaden für den gesamtgesellschaftlichen Frieden ist gewaltig.

Menschlichkeit ist nicht teilbar!

Wir haben deshalb die Initiative ergriffen und zu einem „Schweigemarsch“ (schönere Begriffe sind „Weg der Stille“ oder „Lichterweg“) aufgerufen. Da Worte falsch verstanden und interpretiert wurden, sollte die Kundgebung ohne Worte auskom­men – ohne Grußworte, ohne Reden, ohne Schilder und dergleichen. Da es nicht möglich schien, mehrere Kooperationspartner aus den verschiedenen Religions­gemein­schaften oder darüber hinaus für eine gemeinsame Veranstaltung zu gewinnen – ohne dass vorgegeben worden wäre, wer dabei sein müsste und wer nicht dabei sein dürfte – entschlossen wir uns, das in eigener Verantwortung und alleine zu organisieren, und luden alle, wirklich alle, dazu ein. Durchaus eine Herausforderung für einen Verein wie die Freunde Abrahams mit sehr begrenzten Kapazitäten.

Doch das Interesse der Medien war von Anfang an groß – auch als Folge des verhinderten Friedensgebets. Die Süddeutsche Zeitung, das Sonntags­blatt, die Kirchenzeitung und der BR wiesen schon im Vorfeld auf die Veranstaltung hin. Wir hatten keine Ahnung, wie viele Menschen kämen, meldeten pro forma 100 TN an. Doch der Platz vor der Feldherrnhalle war erfreulich voll, als wir von dort aus den Feldherrn den Rücken kehrten und uns zum Friedensengel aufmachten, „Für Menschlichkeit“. Nur mit Kerzen, und – auch wenn das nicht alle schafften – schweigend. Die Polizei sicherte den Verlauf, über die Ludwig-, Von-der-Tann- und Prinzregentenstraße. Unter dem Engel angekommen, stellten wir ein kleines Ölbäumchen, eine in Zedern­holz geschnitzte Allah-Kalligrafie, ein Kreuz aus demselben Holz und ein jüdisches Schofar (Widderhorn) ab. Karin Hildebrand als Christin, Edveta Wimmer als Muslima. Eine jüdische Teilnehmerin konnte dafür leider – trotz aller Bemühungen – nicht gewonnen werden. Viele der Teilnehmenden gruppierten ihre Lichter um das kleine Ensemble herum und blieben dann noch länger zusammen und bedankten sich, dass wir mit diesem zeichenhaften Angebot die ohnmächtige Lähmung, die so viele empfunden hatten, aufbrechen konnten.

schweigemarsch-2023-11-26

Ein großer Dank an alle, die sich aufge­macht haben!

Die Polizei sprach von 550 Personen – aus unserer Sicht ein sehr schönes Zeichen! Das Bayerische Fernsehen berichtete am Abend ausführlich in der „Rundschau“, weitere Medien folgten. In unserer Rundmail, die zwischen den Jahren versandt wurde, ist das Medienecho dokumentiert.

Kerzen Schweigemarsch

 

 

 

 

 

Foto: Klaus D. Wolf

Neu denken!

Mit dem 7. Oktober 2023 hat im Israel-Palästina-Konflikt eine neue Zeitrechnung begonnen. Es muss neu gedacht werden. Am Tag 112 urteilte der Internationale Gerichtshof, dass die Gefahr eines Genozids in Gaza real sei und dass Israel sofort verpflichtet werde, alles zu unterlassen, was die humanitäre Lage noch weiter ver­schlim­mere und wirksame Maßnahmen zu deren Verbesserung einzuleiten. Am Tag 120, an dem dieser Text entsteht, werden voraussichtlich wieder über 200 Men­schen sterben. So wie, falls die von der „Hamas“-Regierung veröffentlichten Zahlen zutreffen, an jedem einzelnen Tag. Und so, wie es von der „Hamas“ ja auch gewollt und weiterhin befeuert wird. Und die israelische Regierung verkündet, dass dies noch lange so bleiben muss. Dass deren erklärte Kriegsziele – die Befreiung der Geiseln, die Vernichtung der „Hamas“ und die Verteidigung Israels gegen Angriffe – offenkundig in Widerspruch zueinander stehen, spricht niemand aus. Die Geiseln sollen „Hamas“ ja – in menschenverachtender Weise – davor schützen, selbst vernichtet zu werden. Eine Organisation, die unter den Bedingungen, unter denen die Menschen in Gaza seit Generationen leben, großen Rückhalt in der Bevölkerung hat, kann nicht ausgelöscht werden, es sei denn durch umfassenden Völkermord; es können aber noch schrecklichere Terrororganisationen generiert werden. Und die jüdischen Menschen in Israel zu verteidigen, wäre die Aufgabe der aktuellen Regierung am 7. Oktober gewesen, durch die wirksame Sicherung der Grenze zu Gaza, durch das Ernstnehmen der vielen Warnungen vor dem Bevorstehenden, die sie ignorierte – vor allem aber durch eine gerechte und friedliche Lösung des Israel-Palästina-Konflikts, die diese Regierung bewusst und gezielt verhindert.

Wir werden uns weiterhin auf Seiten derer positionieren, die eine solche Lösung des Konfliktes fordern und gegen die, die auch jetzt noch immer nur die Perspektive der „eigenen“ Seite gelten lassen wollen. Wir rufen weiter dazu auf, hinzuschauen auch auf das Leid der vermeintlich „anderen“ Seite und immer wieder laut und entschie­den „Nein!“ zu sagen zu Gewalt, Terror, Krieg und Leid – egal wem und von wem sie verübt werden – ohne Wenn und Aber.

Das Gebet ABRAHAM wurde geschrieben, um es bei unserem für Ende Oktober 2023 geplanten Besuch in Hebron, am Grab Abrahams, zu sprechen:

Gebet Abraham

Weitere aktuelle Stellungnahmen zum Israel-Palästina-Konflikt von Stefan Jakob Wimmer:

  1. Oktober und der Gaza-Krieg: Eine Handreichung zum Verständnis und Empfehlung zum Umgang mit den Auswirkungen in München für Schulen, Verwaltung, Gemeinden, in: Blätter Abrahams 23 (2023) (auch online www.freunde-abrahams.de/blaetter-abrahams)

Ja, ich bin parteiisch! 75 Jahre Staat Israel und die Nakba der Palästinenser, in: Abrahams Post 43, Herbst/Winter 2023/24, S. 19-21 (auch online www.freunde-abrahams.de/abrahams-post)

Frieden und Freiheit für Israel und Palästina. Es liegt auch an uns, den Teufelskreis zu brechen, in: Blätter Abrahams 22 (2022), S. 187-194 (auch online www.freunde-abrahams.de/blaetter-abrahams)

Die Süddeutsche Zeitung berichtete mit einem auf diesen Kontext bezogenen Portrait von Prof. Wimmer am 2./3.12.2023 (https://www.stefan-jakob-wimmer.de/.cm4all/uproc.php/0/SZ-02.12.2023%5B72%5D.pdf?cdp=a&_=18c34f0f9a8)


From the River to the Sea

von Stefan Jakob Wimmer

Das Land an der Ostküste des Mittelmeeres, in der südlichen Levante, ist seit alters her unter mehreren Namen bekannt. Im 2. Jahrtausend vor Christus nennen es ägyptische und keilschriftliche Quellen „Kanaan“. Ethnien namens „Israel“ und „Philister“ werden in der Spätbronzezeit (15.-12. Jh.) ungefähr gleichzeitig erstmals erwähnt – und aus beiden entwickeln sich Namen für das Land: Land „Israel“ (im 9. Jh. vC erstmals belegt) und „Palästina“ (im 5. Jh. vC erstmals belegt). Die Grenzen werden zu unterschiedlichen Zeiten stark unterschiedlich definiert. Aber kein Zweifel besteht, dass beide Namen, „Palästina“ und „Israel“, für das Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan verwendet wurden und werden.

Eine andere, sehr aktuelle Frage ist die nach dem Staat oder den Staaten, die in dem Heiligen Land, das die einen „Israel“, die anderen „Palästina“ nennen, existie­ren oder existieren sollen. Laut Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen vom 29.11.1947 sollten es zwei sein, ein jüdischer und ein arabischer, und dazu ein Corpus Separatum unter internationaler Verwaltung um Jerusalem und Betlehem. Von den heute 193 Mitgliedsländern der UNO haben bisher 167 den „Staat Israel“ (der 1948 gegründet wurde) anerkannt, 138 (darunter 9 EU-Staaten) haben bisher den „Staat Palästina“ (der 1988 formal proklamiert wurde) anerkannt.

Vor Ort gibt es solche, die das ganze Land, vom Jordan bis zum Meer, ungeteilt und exklusiv entweder für den Staat Israel oder für den Staat Palästina beanspruchen – und damit völkerrechts­widrig und konfliktorientiert, statt lösungsorientiert, die Rechte der anderen negieren. In einem Fall wird das in Deutschland hingenommen, im anderen als „antisemitisch“ bekämpft.

Der israelische Professor für Holocaust-Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem Amos Goldberg und Alon Confino, Professor für Geschichte und Jüdische Studien an der University of Massachusetts, schrieben dazu am 31.1.2024 auf https://geschichtedergegenwart.ch: „Es ist genau das, was immer mehr Palästi­nen­serinnen und Palästinenser darüber verzweifeln lässt, ob ein Dialog mit Israelis und Deutschen überhaupt möglich ist.“

Wir wünschen allen Menschen zwischen Mittelmeer und Jordan, die mit der Lösung des Konflikts die Perspektiven und Rechte beider Seiten meinen, endlich Frieden und endlich Freiheit.

[1] Der 8.10.2023 war Wahlsonntag in Bayern. Die „AfD“ erreichte mit 14,6 % einen Stimmenzuwachs von 4,4 %, die „Freien Wähler“, deren Vorsitzender Hubert Aiwanger kurz zuvor mit schweren Anti­semitismusvorwürfen konfrontiert worden war, erreichten mit 15,8 % einen Stimmen­zuwachs von 4,2 %. Die „Freien Wähler“ wurden zweitstärkste Partei, die „AfD“ drittstärkste Partei im Landtag.

 


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Gute Nachrichten

„Mach dich auf für Menschlichkeit!“

Ein einziger, kleiner Verein wagte es, nicht für Solidarität entweder mit der einen oder mit der anderen Seite zu demonstrieren, sondern Zeichen für Menschlichkeit zu setzen. Mit nichts anderem als Kerzenlichtern, ohne Grußworte, Reden, Fahnen usw. Fassungslosigkeit, Trauer und das Verlangen nach Frieden für die Menschen in Israel, Palästina, dem Heiligen Land, in der Ukraine, im Sudan, in Syrien und an allen Schauplätzen von Kriegen und Gewalt zum Ausdruck zu bringen. Am 26.11.2023 machten sich 550 Menschen auf den Schweigeweg, weg von der Feldherrnhalle und hin zum Friedensengel – so schätzte die Polizei, und die Veranstalter sind damit glücklich. – Der kleine Verein waren wir.

Schweigemarsch Foto: Edveta Wimmer


„Gemeinsam gegen Rechts, für Demokratie und Vielfalt“

Über 250 Organisationen (darunter wir) riefen am 21.1.2024 auf, zum Siegestor zu kommen. Schon der Weg war ein Erlebnis – überfüllte Bahnen schon von den Außenbezirken aus, und je näher man der Ludwig-/Leopoldstraße kam, desto eindrucksvoller wurde es: die ganze Stadt schien in eine, dieselbe Richtung gemeinsam unterwegs! Ob es 130.000 (wie die Polizei sagt) oder 260.000 (wie die Veranstalter meinen) waren – seit der legendären Lichterkette vor über 30 Jahren zeigten nicht mehr so viele Menschen in München gemeinsam, dass ewig gestrige nicht unser aller Gegenwart und Zukunft in die Hände bekommen dürfen.

Stachus Demo gegen rechtsFoto: Fridays for Future


„Münchner Lichtermeer“

Und wer am Sonntag, 11.2.2024 mitten in einem Meer aus Lichtern auf der There­sien­wiese dabei war, wird dieses München-Erlebnis nie mehr vergessen … Die deutsche, kurdische, jesidische Rednerin Düzen Tekkal sprach davon, dass man nicht links sein müsse, um gegen Menschenfeindlichkeit Gesicht zu zeigen – man muss nur Mensch sein. Und sie brachte auf den Punkt: „Es reicht nicht, nur gegen etwas zu sein. Wir müssen uns die Frage stellen, wofür wir sind, wer wir sein wollen, welches Land.“

LichtermeerFoto: Stefan Jakob Wimmer

Dass in ganz Deutschland seit vielen Wochen die eindrucksvollste Protest­bewegung seit Bestehen der Bundesrepublik anhält, ist eine richtig gute Nachricht! Freilich ist es aber damit nicht getan, dass diejenigen, die die Bedrohung sehen und ernst nehmen, das auch zeigen. Darauf ankommen wird es, dass die, die noch immer mit Gedanken „spielen“, der sog. „AfD“ eine Stimme zu geben, sich bitte, bitte bewusst werden, was er oder sie da tun würde …


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Buchtipps

Blätter Abrahams 23, 2023

Die „Blätter Abrahams – Beiträge zu religionsgeschichtlicher Forschung und inter­reli­giösem Dialog 23 (2023)“, wieder inhaltlich gegliedert nach Religionsgeschicht­liches, Jüdisches, Christliches, Islamisches, Kollektives und einem Kreativen Ende erscheinen im Februar 2024. Sie dokumentieren die Manfred-Görg-Gedenk­vorlesung von Ulrike Bechmann, „Nicht ohne Hagar!“, den Vortrag von Frater Gregor Baumhof OSB, „Ochs und Esel – zwei besondere Cheruben“, den Beitrag „Fundamentalismus im Islam und die Antworten des Islam“, den Imam Belmin Mehic für das Münchner Lehrhaus der Religionen vorgetragen hat. Von Andreas Renz kommt der 3. Teil zu „Die Familie der Schrift: Neuere Ansätze in der islamischen Theologie in der Verhältnisbestimmung zu Judentum und Christentum“, und von Christoph Kruck „Der Beitrag der Mystik zum christlich-islamischen Dialog oder was wir von Annemarie Schimmel lernen können“. Brigitte Hutt erinnert mit ihrem „Kreativen Ende“: „Ödland“ an die Verfolgung von Sinti und Roma in Europa, und Stefan Jakob Wimmer an „Celadet Alî Bedirxan“, einen kurdischen Prinzen in München, und was die Republik Ararat und die Orthografie des Kurmdanschi mit ihm zu tun haben, 100 Jahre nach der Gründung der Türkischen Republik und der damit verbundenen Entrechtung von Kurden. In einem weiteren Beitrag dokumen­tiert er einen Vortrag, der zur Vorbereitung der Freunde-Abrahams-Reise nach Israel/Palästina gedacht gewesen wäre, „Elias, St. Georg und der Grüne (el-Khidr): drei Namen – eine Gestalt?“.

Aber auch die „Blätter Abrahams“ stehen diesmal natürlich im Zeichen des 7. Oktober und seiner Folgen. Stefan Jakob Wimmer wagt dazu „Eine Hand­reichung zum Verständnis und Empfehlung zum Umgang mit den Auswirkungen in München für Schulen, Verwaltung, Gemeinden“; Georg Gafus stellt aktuelle Lektüre-Empfehlungen zu jüdischem Leben in Deutschland vor, und der, wie in jedem Heft, nachgedruckte Beitrag von Manfred Görg (†) ist der „Formel vom Mitsein Gottes in, vor und nach Auschwitz“ gewidmet.

Alle bisher erschienenen Hefte sind open access, also kostenfrei, online über die Website der Freunde Abrahams verfügbar (www.freunde-abrahams.de/blaetter-abrahams). Wir wollen aber bewusst weiterhin auch an der gedruckten Ausgabe festhalten. Dabei sind wir auf Ihre Unterstützung angewiesen. Wir bitten dringend darum, die Blätter Abrahams zielgerichtet durch Spenden zu unterstützen. Gerne werden Spender namentlich oder auf Wunsch anonym in der Zeitschrift genannt.

Jedes gedruckte Heft ist einzeln zum Preis von 10 € bzw. 5 € (für Mitglieder), zzgl. Versand, erhältlich. Mitglieder erhalten je 1 Exemplar nach Erscheinen gratis. In der Regel bitten wir hierzu um Abholung bei den Veranstaltungen.


Ulrike Bechmann: … durch das Band des Friedens (Eph 4,3)
Bibelarbeiten zum Weltgebetstag [der Frauen] aus Palästina 2024 zu Eph 4,1-6 und Ps 85

Die im Sommer 2023 beim Katholischen Bibelwerk Stuttgart erschienene Publikation unseres Mitglieds Univ.-Prof. Dr. Ulrike Bechmann (s. S. 15), von 1989-1999 Geschäftsführerin des Deutschen Weltgebetstagskomitees, wurde nach dem Verbot des Slogans „From the River to the Sea“ aus dem Verkauf genommen. Das Titelbild des bekannten Künstlers Sliman Mansour trägt den Titel „From the River to the Sea“. Es entstand 2021, zeigt eine Frau, die in weitgehend öder Landschaft einen Baum umarmt. Der Baum trägt zur Hälfte Oliven, zur Hälfte Orangen. Die Publikation mit dem Titelbild und dem Text der Bibelarbeit, den das Kath. Bibelwerk Stuttgart e. V. freigegeben hatte, wurde, erweitert um eine klärende Einleitung, eine Vorstellung des Künstlers Sliman Mansour und der Arbeit der Universität Dar al-Kalima in Betle­hem, vom Verlag dieser Universität im Januar 2024 neu aufgelegt und kann über amazon.de bezogen werden.

Dar al-Kalima University Press Betlehem/Palästina, 95 Seiten, ISBN 978-9950-376-54-0, 7,44€


Omri Boehm: Haifa Republic. A Democratic Future for Israel

Der israelische Philosoph Omri Boehm, der in New York und teilweise an der LMU in München unterrichtet, hat schon 2020 mit der deutschsprachigen Fassung seiner Analyse, „Israel – eine Utopie“, einen mutigen Entwurf für die Überwindung der Nationalstaaten-Falle im Israel-Palästina-Konflikt vorgelegt. Mit dem kompakteren Taschenbuch auf Englisch und dem verheißungsvollen Titel „Haifa Republic“ hat er seine Ideen 2021 ähnlich konzise präsentiert, wie es Theodor Herzl seinerzeit in dem knappen, aber sehr wirkungsvollen Werk „Der Judenstaat“ (1896) getan hat.

Dabei sollte man seiner Prämisse, wonach die Zwei-Staaten-Lösung längst obsolet sei, widersprechen, denn das müsste sie nicht sein, wenn man sie umsetzen wollte. Die Bereitschaft zur Veränderung dürfte freilich für die „Republik Haifa“ eine noch höhere Hürde darstellen. Boehm versteht darunter – und das ist das Kreative an seinem Modell – keinen Ersatz für den bestehenden Staat Israel und nicht für den zu errichtenden Staat Palästina, sondern einen Überbau, eine Klammer, die die zwei Staatswesen, da, wo und soweit es sinnvoll ist, miteinander verzahnt. Das erinnert ein Stück weit an das komplizierte Gebilde Bosnien und Herzegowina mit seinen beiden Entitäten unter einem Dach – ein leider gar nicht gelingender Gesamtstaat, der daran scheitert, dass eine Seite ihn ablehnt. Und doch ist gut, dass über neue Alternativen nachgedacht wird. Seit dem 7. Oktober sind wir alle verpflichtet, neu nachzudenken. „Haifa Republic“ beginnt mit dem Herzl-Zitat: „If you will, it is no dream.“ („Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“)

New York Review of Books 2021, 186 Seiten, ISBN 978-1-6813-7393-5, 13,80 € (auch E-book)

Deutsche Ausgabe: Israel – eine Utopie, Propyläen-Verlag Berlin 2020, 256 Seiten, ISBN 978-3-54910-007-3, 22 €


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Texte zum Nachdenken – Worte für die Seele

Auf der letzten Seite wollen wir Ihnen Gedichte, Lieder oder kurze Texte zum Nachdenken und für die Seele mitgeben. Für Ihre Anregungen sind wir immer dankbar!

Ich glaube ungemein an Kompromisse.
Das Gegenteil von Kompromissen ist nicht Integrität.
Das Gegenteil von Kompromissen sind Fanatismus und Tod.

Amos Oz

 


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