Offener Brief …

… an alle, die sich um Israel sorgen: Der Boykott muss aufhören!

Für die Weiterverbreitung: Hier – Israel-2017-05-14 – die Printversion!

Russland – Türkei – Israel ?

Am Dienstag, 9.5.2017 wurde die Medienlandschaft Israels in einer Weise verändert, wie das in einem Land westlichen Selbstverständnisses nicht denkbar sein sollte.
Die öffentlich-rechtliche Rundfunkbehörde mit dem Sender Kol Israel – „Die Stimme Israels“ – die lange Zeit für Berichterstattung wie für Unterhaltung im Land und aus dem Land in ikonischer Weise stand, so wie der Bayerische Rundfunk in Bayern oder ARD und ZDF in Deutschland, wurde vom israelischen Ministerpräsidenten Netanyahu zerschlagen. Ein Gesetz der Knesset plant schon seit längerem, die Rundfunkbehörde durch eine neue Institution zu ersetzen. Die Kontroverse darüber nimmt immer wieder neue Wendungen, auch tagesaktuell. Kritiker sehen darin das Bestreben, die Berichterstattung in Israel der rechtsgerichteten Regierungspolitik unterzuordnen (s. „We’ve become Russia or Turkey: Israeli journalists protest Netanyahu“, http://www.haaretz.com/israel-news/1.780819, 1.4.2017)
Ohne vorherige Mitteilung wurde dem israelischen Fernsehen am 9.5. nur Stunden vor der Ausstrahlung der allabendlichen Nachrichtensendung Mabat la-hadashot („Blick auf die Nachrichten“) verordnet, dass dies die letzte Ausgabe dieser renommiertesten israelischen Nachrichtensendung zu sein habe. Der Vorgang war nicht anders, als würde die Bundesregierung handstreichartig die Einstellung der „Tagesschau“ anordnen und die ARD (oder das ZDF) zerschlagen, um teilweise angeblich regierungskritische Berichterstattung zu unterbinden.

Ich möchte an alle diejenigen, die Hebräisch verstehen, appellieren, sich die ad-hoc-Debatte, die unmittelbar im Anschluss an die letzte Ausgabe von Mabat ausgestrahlt wurde, in voller Länge (18 Min.) anzusehen: http://www.haaretz.com/israel-news/1.788280 (9.5.2017).
Bis zum Ende. Damit Ihnen erlebbar wird, was mit dem Staat Israel geschieht.
Dort finden Entwicklungen statt, die enge Parallelen zur Türkei, zu Russland, Ungarn und demnächst womöglich auch den USA aufweisen. Seit Jahren wird die Regierungspolitik Israels von Rechtspopulisten und –extremisten dominiert, die mit aller Entschlossenheit dabei sind, das Land bis zur Unkenntlichkeit zu verändern.

Gemeinsam gegen Rechtspopulismus und –extremismus. Überall.

Ich selbst war, als ich von 1984 bis 1992 in Israel gelebt und an der Hebräischen Universität studiert und promoviert habe, Teil einer Gesellschaft, in der rechtspopulistische und –extreme Positionen an den Rändern verortet waren und aus dem Selbstverständnis des Staates heraus von der Mitte der Gesellschaft vehement abgelehnt wurden. In meinem Umfeld wurde (schon) damals regelmäßig beklagt, dass von Seiten jüdischer Gemeinden aus der Diaspora häufig einseitig rechtsgerichtete Strömungen und Meinungen in Israel unterstützt werden würden. Die Friedensbewegung erkannte darin – schon vor 30 Jahren – eine gefährliche Parteinahme und Einmischung von Menschen, die nicht in Israel leben. Sie befürchtete – wie sich gezeigt hat zurecht – dass das anhaltende Verweigern der Rechte der Palästinenser nicht zur Sicherheit Israels beiträgt, sondern dessen Existenz gerade dadurch von immer weiteren Teilen der Welt in Frage gestellt wird.
Das Scheitern des Oslo-Prozesses, an dem der menschenverachtende Terror von „Hamas“ und der völkerrechtswidrige Siedlungsbau ihre jeweiligen Anteile haben, hat letztlich dazu geführt, dass eine wachsende Mehrheit der israelischen Gesellschaft den Perspektiven auf Frieden nicht mehr traut und das Land einer immer stärker rechtsgerichteten Politik überantwortet.

Gerechtigkeit und Frieden

Dennoch lebt in Israel weiterhin eine Zivilgesellschaft, die sich von der aus ihrer Sicht für das eigene Land verheerenden Regierungspolitik abgrenzt und sich für ein menschliches, zukunfts- und überlebensfähiges Gesicht Israels einsetzt. Organisationen wie Shalom Achshav („Peace Now“), Shovrim Shtika („Breaking the Silence“) und B‘Tselem („Im Abbild [Gottes]“) sind im Land und auf internationaler Ebene dafür bekannt. Die nach diplomatischen Konventionen groteske Weigerung von Premierminister Netanyahu, den deutschen Außenminister Gabriel zu empfangen, weil dieser Gespräche mit Vertretern der genannten Gruppen nicht abzusagen bereit war, spricht Bände. In aller Deutlichkeit wurde das in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Gabriel zur Sprache gebracht, den 22 Politiker, unter ihnen ein ehemaliger Vorsitzender der Knesset, Diplomaten, ein ehem. Generalstaatsanwalt, angesehene Wissenschaftler, Künstler und Journalisten in dieser Sache verfasst haben.
In der renommierten Tageszeitung Haaretz wurde er veröffentlicht: http://www.freunde-abrahams.de/wp-content/uploads/2017/05/LetterMerkelGabriel-Haaretz-5-5-2017.pdf (5.5.2017). Man möchte diesen Worten größtmögliche Verbreitung wünschen, in Israel und in Deutschland.

Unterstützung für Israel!

Man möchte auch wünschen, dass dieses Israel aus Europa und namentlich aus Deutschland engagierte Unterstützung erführe. Stattdessen ist aber zu erleben, dass hier in unserem Umfeld Veranstaltungen, die dieses Gesicht Israels wahrnehmbarer machen würden, unterbunden werden. Regelmäßig führen Interventionen von VertreterInnen Jüdischer Gemeinden dazu, dass solche Veranstaltungen in Frage gestellt werden und/oder sogar abgesagt werden müssen.

Antisemitismus hier?

Die Anklage lautet in der Regel auf Antisemitismus. Es findet jedoch kein Verfahren statt, das diesem sehr schweren Vorwurf nachgehen und eine objektive Urteilsfindung ermöglichen würde. Es findet nicht einmal eine offene Debatte statt. Dass die des Antisemitismus Angeklagten, oder besser: Bezichtigten, häufig selbst Jüdinnen oder Juden sind, wird als Einwand nicht zugelassen.

Der Fall Tutzing

Nicht immer machen diese Fälle Schlagzeilen. Wenn eine hochangesehene Institution wie kürzlich die Evangelische Akademie Tutzing betroffen ist, dann berichten die Medien. Was sie zu berichten hatten, war in diesem Fall besonders verstörend. Mehrere bekannte und angesehene Institutionen aus dem Bildungs- und Dialogsektor hatten in der Akademie eine Tagung mit zum Teil hochkarätigen ReferentInnen und einem in sich überzeugenden Programm lange vorbereitet und angekündigt. Wenn eine solche Veranstaltung kurzfristig abgesagt wird, darf eine gut nachvollziehbare Begründung erwartet werden. Dass diese – wie hier geschehen – verweigert wurde und Nachfragen nicht zugelassen werden, hat viele schockiert und befremdet und damit zuerst und unmittelbar das Ansehen der Akademie beschädigt. Dann provoziert dieses Vorgehen zwangsläufig, dass hinter der als vorgeschoben erachteten Begründung andere Vorgänge vermutet werden – nämlich solche, wie sie oben angesprochen wurden. Sollte das zutreffen, träfe die Verantwortung für den entstandenen Schaden die Akademieleitung und diejenigen, die zu ihren Interventionen nicht offen stehen und sie nicht zur Diskussion zu stellen bereit sind.

Oder Antisemitismus dort?

Ist es womöglich nicht eher eine Erscheinungsform von Antisemitismus, wenn diejenigen, die sich in Israel für eine gerechte Friedenslösung einsetzen – und damit für die einzige tragfähige Perspektive auf die langfristige Existenzsicherung des Jüdischen Staates –, boykottiert werden? Nach meiner Überzeugung ist die Frage hier ebenso unangebracht, wie oben.

Die andere Seite

Was ist mit dem Vorwurf, bei der Anprangerung von Menschenrechtsverletzungen werde Israel (gemeint ist: die israelische Regierungspolitik) einseitig attackiert; das palästinensische und arabische (und iranische) Bemühen, den jüdischen Staat zu eliminieren, mit dem Propaganda, Boykott, Hass, Gewalt und Terror einhergingen, komme dabei nicht entsprechend zur Sprache? Als ich in Israel lebte und seitdem ich eng auch mit der palästinensischen Seite verbunden bin, lernte ich auch diese Seite von innen kennen, habe erfahren und erlebe nach wie vor, dass das alles leider in der Tat erschreckend weit verbreitet ist. In den übrigen arabischen Ländern vielleicht mehr noch als unter Palästinensern selbst – weil dort ausschließlich ein ewiges Feindbild Israel vermittelt wird, während Palästinenser immerhin auch Chancen haben können, neben Entwürdigung, Entrechtung und Gewalt andere Gesichter Israels kennenzulernen:  eben auch dort normale Menschen, die sich nach Frieden sehnen. Ein Argument, die Positionen und das Wirken solcher Menschen deshalb nicht auch bei uns zur Sprache bringen zu dürfen, kann ich darin nicht erkennen.

Debattieren statt boykottieren!

In jedem Fall muss die Überzeugung legitim sein, dass das Boykottieren regierungskritischer (auf Israel bezogen) Veranstaltungen dem Staat Israel und seinen Menschen schadet. Wer dieser Überzeugung ist, muss dazu stehen dürfen. Die Debatte darüber ist nicht nur vor dem Gebot der Meinungsfreiheit zulässig, sie ist förderlich, sinnvoll und gut. Niemand verdient dafür stigmatisiert oder disqualifiziert zu werden.

München, 14.5.2017

Prof. Stefan Jakob Wimmer, Ph.D. (Hebr. Univ. Jerusalem)