Abrahams Post 39

 

EDITORIAL:

„Mach dich auf!“  לֶךְ-לְךָ

„Lech lecha!“ – diese Anrede Gottes an Abraham in Gen 12,1, die oft ganz unzu­läng­lich übersetzt wird mit „Zieh weg (aus deinem Land…)“, enthält im Hebräischen einen energischen Nachdruck, etwa so, wie heutige Araber ihn mit dem auch bei uns in die Jugendsprache einsickernden „Yallah!“ verbinden würden: „Los, mach dich auf, und geh (…) in das Land, das ich dir zeigen werde!“ Etwas in der Art möchte man gern denen zurufen, die nach bald eineinhalb Jahren Corona in präventive Resignation versunken scheinen: Da doch gewiss eine vierte Welle bevorstünde, für Herbst und Winter lieber nichts planen, schon gar nicht Präsenzveranstaltungen. Lieber gar nicht mehr reisen und auf unbestimmte Zeit das worst case scenario voraussetzen. Abrahamisch gedacht ist das nicht. Resignation ist kein Bestandteil von Religion. Resignation ist das Gegenteil von Religion. So habe ich es einmal in den Blättern Abrahams formuliert (Heft 17, Seite 126). Mit Bedacht, aber auch mit Zuversicht, mit Vernunft (und mit Impfung!) das Leben wieder zulassen. Zum Aufwachen und wieder Aufstehen aus der Lethargie gehört aber noch sehr viel mehr. Dass wir nämlich nicht einfach da weitermachen, wo wir im März 2020 stehengeblieben sind. Vielleicht hat uns der Schöpfer ein großes „Lech lecha!“ zugerufen (in der fem. Form an eine Frau gerichtet hieße es: „Lechi lach!“ ), damit wir uns endlich entschlossen aufmachen, um die Verirrungen unseres Umgangs mit der Natur, in der Tierhaltung und Fleischwirtschaft, in der Verleugnung der Klima­krise, auch in der sozial, wirtschaftlich und politisch ungerechten Weltordnung hinter uns zu lassen? Was müsste noch passieren, dass wir endlich losgehen? Jetzt!

Stefan J. Wimmer


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BERICHTE  –  NOTIZEN  –  TIPPS

In eigener Sache

14. November: ein Geburtstag der Freunde Abrahams

von Stefan Jakob Wimmer

Im letzten Heft der Abrahams Post (Nr. 38, Frühjahr/Sommer 2021, Seite 17f.) haben wir die einzelnen Schritte dargestellt, mit denen vor 20 Jahren die Gesell­schaft Freunde Abrahams ins Leben gerufen wurde. Eines von mehreren wichtigen Daten war der 14. November 2001, an dem die vereinsrechtliche Gründungs­versamm­lung im LMU-Hauptgebäude stattfand. Mit den damaligen Gründungs­mitgliedern – soweit sie noch am Leben und Mitglied sind – werden wir als Vorstand das Datum in kleiner Runde würdigen. Richtig groß feiern wollen wir, wie in dem Beitrag angekündigt, dann im nächsten Jahr – das mit Blick auf die offizielle Auftakt­veranstaltung am 24. April 2002 ebenso gut als Jubiläumsjahr gelten darf. Wir möchten dafür wieder ein Abrahamsfest feiern, nachdem wir hoffentlich alle pandemie­bedingten Einschränkungen endgültig hinter uns haben, und wollen das mit dem Abrahamischen Friedensgebet zusammen planen, das voraussichtlich auf den 18. September 2022 fallen wird. Zugleich werden wir dabei des 10. Todestages von Prof. Görg (17.9.2012) gedenken. Bitte streichen Sie sich den Termin im Kalender an!

 

Berichte von Veranstaltungen

Jeder nach seiner Façon – religiöse Vielfalt in München

von Judith Einsiedel

In dieser Reihe hat eine kleine Gruppe von Freundinnen und Freunden Abrahams am 13. Juni 2021 die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage besucht – auch bekannt unter der Bezeichnung „Mormonen“. Gastfreundlich wurden wir dort empfangen. Auf einen gemeinsamen Gottesdienst mit Abendmahl unter beiderlei Gestalt folgte ein ausgiebiges Gespräch mit einigen der Gemeindemitglieder. Besonders ins Auge fiel die hohe Anzahl junger Gottesdienstteilnehmer*innen. Auch zwei sehr persönliche Zeugnisse während des Gottesdienstes dürften für viele von uns Gästen ungewöhnlich gewesen sein. Diese konnten an die Praxis neuer geistlicher Gemeinschaften, die in der katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil entstanden sind, erinnern. Auch dort wird oftmals Wert darauf gelegt, das Wort der Heiligen Schrift unmittelbar und konkret mit den eigenen Lebenserfahrungen zu verbinden und die gemachten Erfahrungen vor den anderen Gemeindemitgliedern zu bezeugen. Im abschließenden Austausch kamen die verschiedensten Themen zur Sprache; auch kritische Anfragen – zum Beispiel zur Rolle der Frau in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage oder zur Historizität des Buches Mormon – wurden dabei nicht ausgespart. Ein Gruppenfoto (siehe www.freunde-abrahams.de/jeder-nach-seiner-facon-2/) sowie eine Geschenkausgabe des Buches Mormon für jeden anwesenden Gast rundeten den Besuch ab.

 

Tagesausflug nach Hause

Am 11. Juli 2021 hat es endlich, also beim dritten Versuch, geklappt: Der Tagesausflug zu den interreligiösen Highlights von Allach hat stattgefunden. Anstelle eines Berichts kommen hier Stimmen von Teilnehmenden zu Wort, die die Eindrücke aus unterschiedlichen Sichtweisen beleuchten. Fotos finden Sie auf www.freunde-abrahams.de/tagesausflug-nach-hause/.

Was mir gut getan hat, war, dass beim Gehen und später beim Kaffee im Garten von Stefan Wimmer Zeit war, miteinander ins Gespräch zu kommen. Es war familiär, und so sind mir einige Menschen vertrauter geworden als sonst bei den Vorträgen. Die Gedanken, die Sebastian Weiss und Nikos Dettmer uns mitgeteilt haben, waren Seelennahrung. (Eine unserer treuesten Freundinnen Abrahams)

Der ganze Tag war ein einzigartiges Erlebnis, sozusagen ein Gesamtkunstwerk. Von hinten her angefangen, der Abschluss in Stefans Garten mit guten Gesprächen – überhaupt während des ganzen Tages mit vielen netten Menschen gesprochen und neue Freundschaften geknüpft. Zu Nikos Dettmer und seiner einzigartigen „Vorlesung“ über die Kunst in der Kunst und im Speziellen im Bronzeguss kann man nur sagen, hier blitzte auch Valentin auf. Am meisten hat mich beeindruckt, dass es in dieser aufgeräumten Stadt ein Refugium wie den Tipiplatz gibt. Wenn man erst mal den Asphalt verlassen und in die Wildnis eingetaucht ist, empfängt einen das Tohuwabohu und gipfelt letztlich in der Schrottkapelle. So viel verarbeitete Symbolik wie in dieser Kapelle findest Du nicht mal in einer gotischen Kathedrale – überspitzt formuliert. Es war für mich ein Seelentag – Danke. (Hermann Benker)

Begeistert hat mich die Eisenkapelle, die Sebastian Weiss geschaffen hat. Ein sicher weltweit einzigartiges Haus der Religionen: Aus verrosteten Fahrrädern, Felgen, Mistgabeln, Hufeisen, Zahnrädern und Türschlössern so zusammengeschweißt, dass die umgewidmeten Eisenteile einen 24 qm großen Sakralbau mit Zwiebelturm bilden. Was für eine phantasievolle Konstruktion, in der die Speichen der Fahrräder an die Radfenster romanischer Kathedralen erinnern! Zu entdecken gibt es einen Buddha, eine Menora, Christusfiguren, einen Halbmond und ein Yin-Yang-Zeichen, die völlig selbstverständlich eingewoben sind und die innere Freiheit des Künstlers widerspiegeln. Indem der Bau Innen und Außen aufhebt, lässt er den göttlichen Geist durchwehen. Die Kapelle ist ein liebenswertes architektonisches Manifest gegen geistige Kleinkariertheit. (Yvonne Baur-Saleh)

 

„Sein sind die schönsten Namen“

Besinnlicher Vortrag im Rahmen der MontagsMeditationen des Hauses der Kulturen und Religionen München am 26.07.2021 im MFI (gekürzte und leicht geänderte Fassung)

von Yvonne Baur-Saleh

Allah, der Erhabene, stellt sich im Koran mittels Seiner Namen und Eigenschaften der Menschheit vor: „Und Er ist der Erbarmer, der Barmherzige. Er ist der All-Eine Gott, außer dem es keine Gottheit gibt, der König, der Heilige, der Inbegriff des Friedens, […] der Schöpfer, der Erschaffer, der Bildner. Sein sind die schönsten Namen. Ihn preist, was in den Himmeln und auf der Erde ist. Und Er ist der Mächtige, der Weise“ (Sure 59:22-24).

Das Wesen Gottes ist nicht zu erfassen, denn „Nichts ist Ihm gleich“ (Sure 112:4). Es widerspräche auch dem islamischen Grundprinzip der Einheit Gottes (arab. Tauhid), wäre Er die Summe seiner Namen und Eigenschaften oder wären diese von Seinem Wesen getrennt.

Lässt sich Gott „erfahren“, wenn sich doch nichts mit Ihm vergleichen lässt? Eine Antwort birgt vielleicht das berührende außerkoranische Gotteswort: „Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt werden, deshalb schuf Ich die Welt.“ Alles Geschaffene verweist auf den Schöpfer, ist Zeichen Allahs und Anlass, über Ihn nachzusinnen und Ihn zu preisen. Ein weiterer Zugang (unseres natürlich unzuläng­lichen) Erkennens sind die zahlreichen Namen, mit denen sich Allah offenbart: „Und Gott hat die schönsten Namen, ruft Ihn damit an“ (Sure 7:180). Diese Invokation erfolgt im Arabischen mit dem Partikel „Ya“; etwa „Ya Khaliq“, oh Schöpfer!

Lasst uns jetzt zwei Gottesnamen genauer betrachten: In Seiner Offenbarung gibt sich Allah in mehr als 200 Kontexten als „Der Verzeihende“ zu erkennen. Linguistisch ist hier die arabische Wortwurzel „ghafara“ aus den Konsonanten Ghain, Fa und Ra relevant. Sie trägt die Bedeutung „etwas verbergen“, „etwas zudecken“, woraus verwandte Namen gebildet sind, die Aspekte und Nuancen dieses zudeckenden Verzeihens ausdrücken, etwa Al-Ghaffar und Al-Ghafur.

Ich lade Dich nun ein, hinzuspüren, welche Wirkung ein Gottesgedenken in arabischer Sprache entfaltet. Sprich einige Male abwechselnd „Ya Ghaffar – Ya Ghafur“ (unter Betonung der jeweils zweiten Silbe) und verinnerliche, dass Gott DER Verzeihende ist. Achte auf die Schallwellen der betonten Vokale „a“ und „u“. In welchen Regionen des Körpers erzeugen sie eine Resonanz? Welche Emotionen rufen sie hervor?

(Eine Freundin Abrahams berichtete anschließend mit begleitender Geste, sie habe Al Ghaffar als Lobpreis nach oben empfunden und Al Ghafur als eine stille Bitte nach innen.)

Al Ghaffar ist Der, Der voller Vergebung ist. Dieser Gottesname verweist auf die Quantität des Vergebens: „Wahrlich, ich vergebe stets dem, der umkehrt, glaubt und gute Werke verrichtet und sich dann Meiner Rechtleitung anvertraut“, heißt es in Sure 20:83. Es liegt in der Natur des Menschen, Fehler zu machen, aber wenn er sie aufrichtig bereut, verzeiht Gott sie wieder und wieder.

DER Vergebende verbirgt das Hässliche und offenbart das Schöne. Auf diesen Aspekt verweist Al Ghazali, der große Theologe, Philosoph und Mystiker, indem er eine Begebenheit zitiert, die muslimische Mystiker Jesus zuschreiben: „Man erzählt, dass Jesus, der Segen Gottes sei auf ihm, mit seinen Jüngern an einem toten Hund vorbeikam. Sie sagten: ‚Oh wie der Kadaver stinkt‘, worauf Jesus sagte: ‚Was für schöne weiße Zähne er hat.‘“ Inspiriert uns das nicht, das Unschöne zu bedecken und nur das Beste zu erwähnen? Es gilt als eine (nicht nur) islamische Tugend, die Alltagsfehler der Mitmenschen zu verbergen und sie nicht bloßzustellen.

Mit dem Namen Al Ghafur offenbart sich Allah im Koran über 90 Mal. Hier geht es um den Aspekt Qualität des Vergebens: Er ist Der unendlich Vieles Verzeihende.

Höre nun einen Auszug aus dem Bittgebet Dschauschan al kabir, in dem Gott mit zahlreichen Seiner Namen angerufen wird:

„Ehre sei Dir, neben Dem es keine Gottheit gibt! Du bist Sicherheit und Frieden.
Bewahre uns, bewahre uns vor dem Feuer,

Oh Vergebender der Sünden, Oh Verhüller der Fehler.
Oh Heiler der Herzen, Oh Erleuchtender der Herzen,

Oh Jener, Der das Schöne enthüllt, Oh Jener, Der das Hässliche verhüllt,
Oh Jener, Dessen Vergebung allumfassend ist,
Oh Jener, Der mit Barmherzigkeit freigiebig ist.“

 

Einige der Eigenschaften Gottes finden ihren Widerhall in jenen Namen, die Eltern für ihre neugeborenen Kinder wählen. Sie wünschen sich, dass sie gutes Benehmen und einen edlen Charakter entwickeln. Sie nennen einen Sohn zum Beispiel Karim oder eine Tochter Karima, weil Allah großzügig (arabisch karim) ist, bzw. „Abd al Karim“, Diener DES Großzügigen oder „Amat al Karim“, die Dienerin DES Groß­zü­gi­gen. Die absolute Form Al Karim (DER Großzügige) bleibt allein Gott vorbehalten.

Der Prophet Muhammad, der Friede und Segen sei auf ihm, empfahl wiederholt, sich die Tugenden Gottes zum Vorbild zu nehmen: „Wahrlich Allah ist schön und liebt die Schönheit“ oder „Zeigt Barmherzigkeit denen, die auf der Erde sind, dann wird der EINE im Himmel zu euch barmherzig sein.“

Diese MontagsMeditation wurde gemeinsam mit Imam Belmin Mehić (MFI) gestaltet. Auszüge aus seinem Part finden Sie in der nächsten Abrahams Post.


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Aus aller Welt

Ein Wahrzeichen für Europa: das Rathaus von Sarajewo

von Stefan Jakob Wimmer

Die Freunde Abrahams führen nach Möglichkeit jedes Jahr eine Reise zu näher oder weiter entfernten Zielen durch – die Reichweite bisher erstreckt sich von der Algarve bis zum Kaspischen Meer. Zu den gewiss nicht nur nach meinem Empfinden bewegendsten Reisen gehörte die, die uns im Herbst 2008 „Auf der Suche nach einem europäischen Islam“ nach Bosnien und Herzegowina geführt hat. Wir organisierten sie gemeinsam mit der Islamischen Gemeinde Penzberg und der Evangelischen Stadtakademie. Sie war geprägt von zahlreichen Begegnungen und Gesprächen, von der Konfrontation auch mit der sehr schmerzvollen jüngeren Geschichte. Die Gedenkstätte für den Völkermord an den bosnischen Muslimen besuchten wir mit den „Müttern von Srebrenica“ zusammen. Die hauptverantwort­lichen Kriegsverbrecher lebten lange Zeit unbehelligt. Wenige Monate vor unserer Reise erst war Radovan Karadzić, der als Präsident der so genannten Republik Sprska die Aggressionen gegen die bosnischen Muslime zu verantworten hatte, gefasst worden. Es sollte bis 2019 dauern, bis er schließlich rechtswirksam vom UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Der damals noch untergetauchte General Ratko Mladić, der den Genozid in Srebrenica durchführen ließ und vier schwere Jahre lang Sarajewo belagerte, wurde 2011 gefasst und eben erst, am 8. Juni 2021, in letzter Berufungsinstanz vom Internatio­nalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ebenfalls zu lebenslanger Haft verurteilt.

Wenige Tage zuvor war ich privat wieder in Sarajewo und besuchte das historische Rathaus der Stadt. Das als „Vijećnica“ bekannte Bauwerk stammt aus der Zeit der österreichischen Verwaltung Bosniens und wurde 1892-96 von einem tschechischen Architekten im maurischen Stil errichtet. In jugoslawischer Zeit diente es als Nationalbibliothek für die Teilrepublik Bosnien/Herzegowina und wurde nach deren Unabhängigkeit gezielt in Brand geschossen, um das kulturelle Erbe des Landes zu vernichten. Das Bild des „Cellisten von Sarajewo“, Vedran Smailović, der noch während des Krieges in der ausgebrannten Ruine dieses Gebäudes musizierte, um so Zeichen gegen die Gewalt und für die Kultur Europas zu setzen, wurde damals ikonisch. Wir haben es als Freunde Abrahams mehrfach thematisiert. Doch aus dem Bewusstsein Europas ist das eindrucks­volle Bild – traurigerweise, bezeichnender­weise, und vielleicht auch ver­häng­nisvoller­weise – wieder weitgehend entschwun­den.

Der Cellist von Sarajewo
Foto: Der Cellist von Sarajewo, Quelle: Wikipedia, Creative Commons

Während unserer Reise wurden wir von der damaligen Oberbürgermeisterin Semiha Borovac im modernen, neuen Rathaus zum Gespräch empfangen und anschlie­ßend zum Essen in einem Altstadtrestaurant eingeladen. Wir erfuhren unter vielem anderen, dass die Vijećnica wiederaufgebaut werden und eines Tages dann der Stadt wieder als Rathaus dienen sollte. Als ganz kleines Dankeschön schickten wir im Anschluss an die Reise eine Spende von 500 Euro als symbolischen Beitrag der Freunde Abrahams für den Wiederaufbau des Rathauses (siehe dazu den Reisebericht in der „Abrahams Post“ Sommer 2009).

Jetzt, Anfang Juni 2021, durfte ich die wiederhergestellte, strahlende Schönheit des eindrucksvollen Bauwerks bewundern. Davor wurde ein weiter Platz gestaltet, durch den die ikonische Fassade ihre volle Geltung entfalten kann. Tafeln am Eingang erinnern daran, dass die Länder Österreich, Ungarn und Spanien viel Geld zum Wiederaufbau gestiftet haben, und tatsächlich wähnt man sich inmitten des prachtvollen Innendekors nach Andalusien versetzt. Wer möchte, kann über Bildschirme vor dem Sitzungssaal die gerade stattfindenden Stadtratssitzungen verfolgen oder aber sich mit wechselnden Kunstausstellungen befassen. Ähnlich schnell scheint man vor dem Hintergrund der schwierigen politischen Mechanismen des Landes die Bürgermeister zu wechseln, jedenfalls sind in der Porträtgalerie schon vier auf Semiha Borovac gefolgt (aktuell wieder eine Frau, Benjamina Karić). Eine Installation erinnert an den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie, deren Ermordung 1914 bekanntlich sehr nachhaltige Konsequenzen für ganz Europa hatte. Und in einem Trakt des Gebäudes wird heute an den Genozid von 1992-1995 in einer bedrückenden Dokumentation erinnert, ebenso an die Kriegsverbrecherprozesse. Das Urteil für Ratko Mladić war noch mit Fragezeichen versehen. Wenige Tage später konnte es abgehakt werden. Und in den Fernseh­bildern, die über Reaktionen auf das Urteil berichteten, erkannte ich Gesichter jener Mütter von Srebrenica wieder, die sich mir seit 2008 eingebrannt hatten.

Vijećnica Sarajevo
Foto: Vijećnica; Quelle: https://sarajevo.travel/en/things-to-do/vijecnica-city-hall/174

Ist damit also Gerechtigkeit bewirkt? Im juristischen Sinn wohl schon. Aber „gerecht“ wäre, wenn aus den Verbrechen der Vergangenheit wirklich Lehren für die Zukunft gezogen würden. Wenn die maurisch-österreichisch-bosnische Vijećnica, ihr Schick­sal und ihre Bedeutung, in allen Schulbüchern Europas vorkäme. Wenn Sarajewo und das Miteinander der Kulturen und Religionen, das dort Jahrhunderte lang vorgelebt wurde, während andere Europäer Konfessionskriege austrugen, als die „Seele Europas“ wahrgenommen und wieder eingefordert und gefördert und unterstützt würde, dann wäre nicht nur Gerechtigkeit erreicht, sondern dann käme Europa auf dem Weg zu sich selbst endlich voran. Als Freunde Abrahams wollen wir unsere ganz kleinen, symbolischen Beiträge weiter dazu leisten.


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Franziskus auf den Spuren Abrahams
und Freunde Abrahams auf den Spuren von Franziskus

von Stefan Jakob Wimmer

(stark gekürzte Fassung; die ausführliche Version dieses Beitrags wurde am 29.3.2021 per Rundmail versandt und ist abrufbar über Auf-Abrahams-Spuren.pdf)

Ernste Fragen – und große Zeichen als Antwort

Die erste Reise, die Papst Franziskus in der noch immer anhaltenden „Corona-Zeit“ unter­nommen hat, führte in den Irak. Sie war keine Reise wie alle anderen. Keine Menschenmassen an den Straßen, denn eben wegen Corona, so die offizielle Erklärung, wurde eine strenge Ausgangs­sperre verhängt. Kein offenes Papamobil, sondern gesicherte Fahrzeuge, und als doch noch zu gefährlich eingestufte Strecken mussten mit dem Hubschrauber überflogen werden. Und heftig fiel noch im Vorfeld die Kritik der Bedenken­träger aus: Hat das Land nicht andere Sorgen, als einen Papstbesuch zu organisieren – wo doch dort nur noch ein halbes Prozent der Bevölkerung Christen sind, und die wieder aufgeteilt in verwirrend archaisch benannte und uns anmutende Kirchen? Bestand nicht doch die Gefahr, dass lauter neue Corona-Hotspots entlang der Reiseroute entstehen würden? Und was, wenn wirklich etwas passieren würde? Womöglich dem Papst selbst? Oder unschuldigen Opfern, gegen die „islamistische“ (also: den Islam miss­brauchende) Terroristen ihren Zorn lenken würden? Keine unberechtigten Fragen, gewiss. Drei spannende Tage also, Freitag, 5., Samstag, 6. und Sonntag, 7. März 2021 im Irak. Und – hat sich das alles gelohnt?

Franziskus ist ein Mensch großer Zeichen – was seinem Amt ja durchaus entspricht. Und jeder Reisetag war dicht gefüllt mit Zeichen und Symbolen. Das beginnt schon bei der Begrüßung durch Staatschef Barham Salih am Flughafen. Der – der Präsident eines der größten und bedeutendsten Länder der Arabischen Welt – ist nämlich kein Araber, sondern Kurde. Es folgte der Besuch einer Kirche in Bagdad, in der 2010 ein Anschlag durch eine Vorläufergruppe von Da’esh über sechzig Todesopfer forderte. Der Anschlag wurde zum Fanal für die Flucht von Christen aus dem Irak.

Mossul: Wiederaufbau

Mossul, am Tigris, nahe den Ruinen des biblischen Ninive gelegen, ist eine der legendären Städte des Orients, immer geprägt von der ethnischen und religiösen Vielfalt des nördlichen Zweistromlands. In der historischen Al-Nuri-Moschee von Mossul rief der Terrorführer Abu Bakr al-Baghdadi sich 2014 selbst zum Kalifen Abraham (Ibrahim) aus. Vom kurzen Wüten seines „Islamischen Staates im Irak und in Syrien“ (Da’esh) ist nicht viel mehr als schreckliches Leid, Grauen und Zerstörung geblieben. Nicht weit von der Moschee entfernt, inmitten eines Ensembles mehrerer Kirchen, die jetzt teilweise zerstört sind, sprach nun Papst Franziskus vom Wieder­aufbau der Steine und der Herzen. Sein Gebet, vor einem aus angekohlten Balken einer der zerstörten Kirchen gezimmerten Kreuz gesprochen, gehört zu den zentralen Texten jener bewegenden Tage.

Kurdistan: Normalität

Nicht weit östlich von Mossul, jenseits der zwei Ströme, beginnt die Autonome Region Kurdistan. In deren Hauptstadt Erbil nahm der Papstbesuch beinahe „normale“ Züge an – hier konnte eine Messe im Fußballstadion stattfinden, mit trotz Corona mehreren Tausend Menschen, denen der Papst dann doch im Papamobil nahekam. In dieser Region im Nordosten des Irak herrschen vergleichsweise friedliche, stabile und wirtschaftlich wie kulturell ermutigende Verhältnisse. Irakisch Kurdistan ist schon seit Langem problemlos bereisbar – weswegen wir Freunde Abrahams diesen Teil des Irak gerne schon im vorigen Jahr besucht hätten. Vielleicht gelingt es uns diesen Oktober, die Reise nachzuholen. Wenn nicht, dann nächstes Jahr, so Gott will. Wir möchten dort neben dem historisch bedeutsamen Erbil auch die pulsierende Metropole Sulaimaniyeh besuchen, das Hauptheiligtum der Jesiden und assyrische Christen in den Bergen, uns mit dem jüdischen Erbe befassen und mit archäo­logischen Stätten, mit der Situation der Frauen, mit den Fragen nach kurdischer Identität, und vielem anderen mehr.

Franziskus und der Ayatollah

Die Stadt Nadschaf wird dominiert von einer goldenen Moschee über dem traditionellen Grab von Imam Ali, der mit Fatima, der Tochter des Propheten Mohammed, verheiratet war und als dessen Nachfolger galt. Für die schiitischen Muslime, die sich in besonderer Weise als „Anhänger Alis“ verstehen, ist Nadschaf deshalb einer der wichtigsten Pilgerorte überhaupt. In einer unauffälligen kleinen Gasse inmitten der Altstadt, der Moschee ganz nahe, lebt Großayatollah Sayyid Ali al-Sistani, der höchste geistliche Würdenträger der schiitischen Bevölkerungs­mehrheit im Irak – und häufig ist zu hören: für die Schiiten weltweit.

Sayyid al-Sistani ist mit 90 Jahren hochbetagt und lebt seit vielen Jahren sehr zurück­gezogen. Schon deshalb war allein das Zustandekommen der Begegnung ein machtvolles Zeichen – über ihren Verlauf wurde wenig bekannt. Nachdem der Papst einen intensiven Dialog mit dem höchsten Würdenträger der sunnitischen Muslime, dem Großscheich von Al-Azhar in Kairo Ahmed el-Tayyeb, pflegt und beide 2019 in Abu Dhabi das „Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen – Für ein friedliches Zusammenleben“ formulierten, hatten viele nun auf eine gemeinsame Erklärung gehofft, doch die blieb aus. Eine Stellungnahme aus dem Büro des Großayatollahs schließt mit dessen Dank an den Papst für seinen Besuch und den Wünschen „Gutes und Glück“ an ihn, an alle Anhänger der Katholischen Kirche und die Menschheit insgesamt.

In einiger Hinsicht wird man erinnert an eine Begegnung, die sich 1219 in Ägypten ereignete: Franziskus und der Sultan. Von dem unerwarteten Besuch des Hl. Franz von Assisi bei Sultan al-Kamil ist nicht viel mehr bekannt, als dass er stattfand. Das allein war immerhin von so enormer Strahlkraft, dass noch 800 später daran erinnert wird.

An der Ur-Stätte Abrahams

Ein besonderer Höhepunkt der Reise war der Besuch in der Ruinenstätte der antiken Stadt Ur im Süden von Mesopotamien. Der Tell el-Muqayyar ist ein weitläufiges Gelände, in dessen Zentrum die beherrschende Zikkurat eindrucksvoll rekonstruiert worden ist. Die stufenförmigen, massiven Tempel­türme sind für die Kulturen des Zweistromlands so ikonische Wahrzeichen wie die Pyramiden für Ägypten, und einer davon, der von Babylon, ist wohl im Motiv vom Turmbau zu Babel biblisch verarbeitet worden. Am Rand des Geländes, ganz in der Nähe der für den Papst­besuch errichteten Tribüne, wurden Reste eines größeren Wohngebäudes teilweise rekonstruiert und, freilich ganz willkürlich, als „Haus Abrahams“ ausgegeben.

Dass die Ortslage in der Tat identisch sein dürfte mit der Stadt, die in Genesis 11 als „Ur der Chaldäer“ bezeichnet wird, wird heute kaum bezweifelt. Ob freilich Abraham tatsächlich dort geboren wurde, ist schwerer zu erklären – denn die Bibel selbst nennt Haran im oberen Mesopotamien als seinen Heimatort (Gen 12). Zwei anscheinend konkurrierende Traditionen wurden da, nach gängiger Vorgehens­weise der Textredaktoren, zusammengewoben, indem Abrahams Vater aufgerufen wird, mit seiner Familie von Ur nach Haran zu ziehen, und Abraham dann von dort aus in das Land gerufen wird, das Gott ihm zeigen will. Die Ortsnamen „Haran“ und „Ur“ sind sich in der (uns etwas fremden) Logik der semitischen Sprachen fast zum Verwechseln ähnlich, und sowohl die Chaldäer als auch der berühmte Mondtempel von Haran wurden als geradezu ikonisch für die Verehrung der Gestirne wahrgenommen. Deshalb werden beide mit Abrahams Ursprung in Bezug gesetzt. Von Haran aus, heute nahe der türkisch-syrischen Grenze gelegen, wurden Abrahamstraditionen in muslimischer Zeit in das nahe Urfa verlagert, wo Besucher da, wo König Nimrud den jungen Abraham auf dem Scheiter­haufen verbrennen wollte, legendäre Fischteiche besuchen, und sogar eine „Geburtshöhle“ Abrahams gezeigt bekommen.

Papst Franziskus begegnete bei den Ruinen von Ur Vertretern der Religionen, die ja auch im heutigen Irak nicht nur schiitische und sunnitische Muslime und diverse christliche Konfessionen umfassen, sondern auch Jesiden – die wir bei uns erst durch ihre besonders schwere Verfolgung durch Da’esh wahrnehmen – und Mandäer. Eine jüdische Gemeinschaft besteht im Irak heute so gut wie nicht mehr, was angesichts ihrer historischen Bedeutung für das Judentum durch die Jahrtausende hin eigentlich kaum zu fassen ist.

Franziskus sprach dort erneut bewegende Worte: „Es wird keinen Frieden geben, solange die anderen als sie bezeichnet werden und nicht als wir, beschwor den Blick auf die Sterne, der alle Menschen mit Abraham und untereinander vereint, und schloss mit einem von ihm verfassten „Gebet der Kinder Abrahams“.

Den Irak im Herzen tragen

Diese in so vielerlei Hinsicht außergewöhnliche Papstreise hat Zeichen gesetzt, die nicht nur das Land selbst und die Region des Nahen Ostens betreffen. Daher ist schwer verständlich, dass die Berichterstattung in unseren Medien über ein „ungläu­biges Staunen“ (bewusst zitiert nach Navid Kermani) nicht hinauskam. Gleichsam unter „Kurioses aus aller Welt“ subsummiert wurden die Bilder und Meldungen, und nach drei Tagen schien sich von all dem nichts mehr im Bewusstsein der Öffentlich­keit abgesetzt zu haben … Der Grund dafür mag darin zu suchen sein, dass unsere Gesellschaft mit Religion an sich kaum mehr umzugehen weiß, umso weniger mit den Botschaften, den Inhalten und den Zeichen dieser paar Tage aus einem Land, von dem wir nur Schreckensmeldungen entgegenzunehmen gewohnt sind.

Wir als Freunde Abrahams wollen diese Anregungen und Erkenntnisse keineswegs als abgehakt ablegen. Die Abschiedsworte von Papst Franziskus nach der Schluss­messe in Erbil lauteten: „Der Irak wird immer bei mir bleiben, in meinem Herzen.“

Wir haben dazu zwei Vortragsveranstaltungen geplant (siehe unter Kurdisches Judentum gestern und heute und Wie lebte es sich in Ur im 19. Jahrhundert vor Christus?) und wollen die Autonome Region Kurdistan besuchen. Der Besuch von Papst Franziskus hat verdeutlicht, dass das Land nur dann weit weg und anscheinend für uns wenig relevant erscheint, wenn wir uns nicht darauf einlassen. Die Reise hat auch Mut gemacht und weckt die Hoffnung, dass nicht nur (wie schon seit Langem) die Kurdische Autonomieregion dort bereist werden kann, sondern dass auch die Religionen und Kulturen im „eigentlichen“ Irak, in Bagdad und Mossul, in Nadschaf und Kerbala, Ur, Babylon und vielen weiteren Städten und Stätten der Menschheit wieder als unser gemeinsames Erbe wahrgenommen wird. Die Menschen – also „wir“ – im Irak warten auf Begegnungen. Lassen wir uns darauf ein!

Eindrucksvolle Bilder der Reise und die Texte des Papstes sind auf der Website des Vatikan vollständig dokumentiert:         
http://www.vatican.va/content/francesco/de/travels/2021/outside/documents/papa-francesco-iraq-2021.html


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Abrahams Partnerstadt

von Stefan Jakob Wimmer

Zu den sieben bestehenden Städtepartnerschaften Münchens – mit Edinburgh (1954), Verona (1960), Bordeaux (1964), Sapporo (1972), Cincinnati (1989), Kiew (1989) und Harare (1996) – kam am 21. Juli 2021 eine achte hinzu: mit der israelischen Stadt Beerscheva באר-שבע (auch: Beerscheba, Be’er Sheva u. a.). Für die im Süden Israels am Rand der Wüste Negev gelegene, moderne Großstadt (ca. 220.000 Einwohner) ist es bereits die 15. Städtepartnerschaft.

Der Name der Stadt knüpft an der biblischen Ortstradition an, die – wie für Sichem und Hebron – besonders eng mit Abraham verbunden ist. Der habe dort mit dem örtlichen Fürsten Abimelech einen Bund geschlossen, der an einem Brunnen (hebr. be’er) durch einen Schwur und durch sieben Lämmer besiegelt wurde (Gen 21,25-32; vgl. auch Gen 26,26-33). Hebräisch sheva‘ kann sowohl „Schwur“ als auch „sieben“ bedeuten. Ein Brunnen oder eine Quelle „in der Wüste von Beerscheva“ spielt auch eine zentrale Rolle bei der Rettung von Abrahams Frau Hagar und beider Sohn Ismael (Gen 21, 14-21). Dieses Geschehen setzen der Koran und die islamische Tradition noch viel weiter südlich an: in Mekka, wo sich heute jeder Pilger mit Wasser aus der Zamzam-Quelle versorgt – sozusagen die islamische Version von Beerscheva. Ein „Abrahamsbrunnen“ wird wohl seit römisch-byzantinischer Zeit beim heutigen Beerscheva gezeigt, doch die Stadt aus alttestamentlicher Zeit dürfte mehrere Kilometer entfernt auf dem heutigen Tell Sheva zu suchen sein.

Beerscheva wurde Anfang des 20. Jahrhunderts als osmanischer Stützpunkt und Marktort für die Beduinen wiedergegründet. Wegen der engen Beziehungen des Deutschen Kaiserreichs mit der Türkei waren bei Planung und Bau der heutigen Altstadt Deutsche maßgeblich beteiligt. Zu einer Stadt wuchs Beerscheva nach dem Israelischen Unabhängigkeitskrieg, und als Hauptsitz der Ben-Gurion-Universität des Negev entwickelte sich der inzwischen pulsierende Ort auch zu einem Wissen­schafts­zentrum von internationaler Geltung.

Unter den zahllosen archäologischen Funden, vor allem aus Grabungen im Negev, lagern dort auch ägyptisch beschriftete Tonscherben, die ich in Zusammenarbeit mit dem inzwischen emeritierten Kollegen Eliezer Oren bearbeite. Sie stammen aus dem 13. und 12. Jahrhundert v. Chr., als die Region zur von den Pharaonen beherrschten Provinz Kanaan gehörte, und dokumentieren Erntesteuerabgaben an die ägyptische Verwaltung. Wie ich vor kurzem herausfand, findet sich auf einer der Scherben die älteste Erwähnung von Bier („Gerste für das Bier: 2 Säcke“) aus dem Gebiet des heutigen Israel! Womit sich doch eine Verknüpfung zur Partnerschaft zwischen der für seine Biere weltberühmten Stadt München und Beer-Sheva (im Englischen ist ein Wortspiel mit „beer“ unübersehbar!) ergäbe … Vielleicht ließe sich ja ein gemein­sames bayerisch-israelisches Bierfest in Beer-Sheva mit dem für Abraham so wegweisenden Motiv der Gastlichkeit verbinden – die wissenschaftliche Untermau­erung wäre ich gerne bereit beizusteuern.


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Jerusalem Declaration on Antisemitism

von Stefan Jakob Wimmer

Regelmäßig haben wir in der „Abrahams Post“ über den gemeinsamen Kampf gegen Antisemitismus berichtet und darüber, wie dieser Kampf durch den Miss­brauch des Antisemitismusbegriffs und -vorwurfs konterkariert wird. Dabei kommt einer im Jahr 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) herausgegebenen „Arbeitsdefinition“ von Antisemitismus eine zentrale Rolle zu. Sie lässt in Interpretation und Auslegung Spielräume offen, die im Sinne politischer Interessen ausgenutzt werden können. Wir haben ausführlich davon berichtet, wie gerade in München in Folge eines Stadtratsbeschlusses von 2017 durch fehlgelei­tete Handhabung in der städtischen Praxis die Meinungsfreiheit beschränkt und Unrecht an Menschen verübt wird, die Anerkennung und Unterstützung verdienen würden anstatt Diffamierung und Stigmatisierung.

Eine Gruppe international renommierter Wissenschaftler*innen aus der Antisemitis­mus­forschung und damit zusammenhängenden relevanten Bereichen hat nun, unterstützt von zahlreichen Persönlichkeiten aus Europa, den USA und Israel, auf die Arbeitsdefinition der IHRA reagiert und im März 2021 eine erweiterte Definition von Antisemitismus veröffentlicht: „The Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA)“ („Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“).

Anders als die IHRA-Definition legt die JDA nicht nur fest, welche Einstellungen antisemitisch sein können – was in entsprechend missbräuchlicher Auslegung dann aber nicht mehr hinterfragt wird –, sondern stellt darüber hinaus auch fest, was nicht antisemitisch ist. Damit bietet sie aus kompetenter Richtung Orientierung für die, die im Spannungsfeld zwischen Antisemitismusverdacht und legitimer Kritik an der Politik Israels irritiert sind und – wie sich leider zeigt – daher oft wichtige Stimmen delegitimieren und den tatsächlichen Kampf gegen Antisemitismus beschädigen.

So wird in der JDA unter den 10 Punkten, die als antisemitisch gelten (fünf davon beziehen sich auf den Israel-Palästina-Konflikt), festgestellt, dass es zum Beispiel antisemitisch ist, „die Symbole, Bilder und negativen Stereotypen des klassi­schen Antisemitismus auf den Staat Israel anzuwenden“, „Jüd:innen kollektiv für das Verhalten Israels verantwortlich zu machen oder sie, bloß weil sie jüdisch sind, als Agent:innen Israels zu behandeln“, „Jüd:innen im Staat Israel das Recht abzu­sprechen, kollektiv und individuell gemäß dem Gleichheitsgrundsatz zu leben.“ Unter den fünf Beispielen, „die nicht per se antisemitisch sind (unabhängig davon, ob man die Ansicht oder Handlung gutheißt oder nicht)“ wird unter anderem angeführt: „Unterstützung der palästinensischen Forderungen nach Gerechtigkeit und der vollen Gewährung ihrer politischen, nationalen, bürgerlichen und mensch­lichen Rechte, wie sie im Völkerrecht verankert sind“, „Faktenbasierte Kritik an Israel als Staat. (…) Es ist nicht per se antisemitisch, auf systematische rassistische Diskrimi­nie­rung hinzuweisen“, „Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewalt­freie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.“

In dem der Erklärung angefügten, ausführlichen Kommentar in Fragen-und-Ant­worten-Form wird zur letztgenannten Leitlinie klargestellt, dass damit nicht gleich­zeitig die so genannte „BDS“-Kampagne unterstützt wird. „Die Unterzeichnenden haben unterschiedliche Ansichten zu BDS. Leitlinie 14 besagt nur, dass gegen Israel gerichtete Boykotte, Desinvestitionen und Sanktionen nicht per se antisemitisch sind.“ Für die Beurteilung, welche Maßnahmen von „BDS“ antisemitisch sind, haben dieselben Definitionen zu gelten, wie in anderen Fällen. (Siehe dazu auch unter „Gute Nachrichten“: „Im ‚Eine-Welt-Haus‘ darf auch über ‚BDS‘ gesprochen werden“, weiter unten.)

Die JDA ist in voller Länge in der englischsprachigen Originalversion und in deutscher Übersetzung verfügbar unter: https://jerusalemdeclaration.org

Die Freunde Abrahams begrüßen die „Jerusalem Declaration on Antisemitism“ als dringend gebotene, seriöse Klarstellung gegenüber der IHRA-Definition. Wir schließen uns ihr vollinhaltlich an und rufen Institutionen ebenso wie die Öffentlich­keit dazu auf, sie zu übernehmen, zu vertreten, zu verbreiten und zu unterstützen.


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Gute Nachrichten

Im „Eine-Welt-Haus“ darf auch über „BDS“ gesprochen werden

von Stefan Jakob Wimmer

Dass die Landeshauptstadt München vor Gericht verliert, empfinden wir per se nicht als gute Nachricht. Dass im „Eine-Welt-Haus“, das von einem Trägerverein in einer städtischen Immobilie betrieben wird, für die so genannte „BDS“-Kampagne „geworben“ wurde – wenn dem denn so war –, würden wir auch nicht per se als gute Nachricht empfinden, denn die Freunde Abrahams als Verein unterstützen – wie schon mehrfach erklärt – „BDS“ nicht. Wir arbeiten, seit es die Freunde Abrahams gibt, gerne und bewusst auch mit israelischen Wissenschaftler*innen zusammen (siehe zum Beispiel oben im Beitrag „Abrahams Partnerstadt“) und möchten das auch in Zukunft tun.

Wie oben im Beitrag zur Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (siehe oben) darge­stellt, werden aber unter Berufung auf eine irreführende, pauschale und insofern falsche Einstufung der „BDS“-Kampagne als antisemitisch in München systematisch Veranstaltungen unterbunden, wenn dort auch die legitimen Rechte der Palästinen­ser zur Sprache kommen und so für einen gerechten Frieden in Nahost geworben werden soll. Dass das Verwaltungsgericht München nun die Landeshauptstadt verpflichtet hat, dem „Netzwerktreffen der Palästina-Solidarität“ Räume im Eine-Welt-Haus für eine Veranstaltung am 23. Juli 2021 zur Verfügung zu stellen, bei der unter anderem auch über „BDS“ gesprochen wurde, ist deshalb eine gute Nachricht!

Juristische Grundlage hierfür war ein Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs von 2020, wonach der Stadtratsbeschluss von 2017 unter Bezugnahme auf die IHRA-Definition von Antisemitismus die Meinungsfreiheit unzulässig einschränke. Dass das jahrelang so sein konnte, ist eine sehr irritierende Nachricht. Dass es dafür nun keine juristische Unterstützung mehr gibt, ist wiederum eine gute Nachricht.

Die Stadt hat dagegen Revision eingelegt, ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts steht noch aus.

(Quelle: „Stadt verliert vor Gericht“ von Jakob Wetzel, Süddeutsche Zeitung 26.7.2021)

 

Sechs Kinder und Jugendliche für Klimaschutz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

von Stefan Jakob Wimmer

Weil sie in den unzulänglichen Klimaschutzmaßnahmen der europäischen Länder einen offensichtlichen Verstoß gegen ihre Menschenrechte sehen, haben sechs Kinder und junge Leute aus Portugal, zwischen 8 und 20 Jahren, gegen ihr Heimat­land und 32 weitere Staaten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geklagt. Die gute Nachricht: Der EGMR hat die Klage – wider alle Erwartung – zugelassen. Dass, wie formal erforderlich, zuerst die nationalen Rechts­wege hätten beschritten und ausgeschöpft werden müssen, sei den Klägern nicht zuzumuten, und der Sachverhalt offenkundig von erhöhter Dringlichkeit.

Die schlechte Nachricht: Wann und ob es überhaupt zu einem Urteilsspruch kommt, steht allerdings dahin. Die 33 Staaten – auch Deutschland – halten die Klage für unzulässig!

(Quelle: „So etwas gab es bisher nicht“ von Thomas Hummel, Süddeutsche Zeitung 25.3.2021)


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Buchtipps

Karl-Josef Kuschel und Shahid Alam
Goethe und der Koran

Dass der Dichterfürst deutscher Sprache sich intensiv mit dem Islam und speziell auch dem Koran auseinandergesetzt hat, ist lange bekannt. Hier kommt die erste umfassende Darstellung aller Texte Goethes zum Islam, präsentiert und analysiert vom besten Kenner der religionsübergreifenden deutschen Literatur, Prof. i. R. Dr. Dr. h. c. Karl-Josef Kuschel, Vorsitzender des Kuratoriums der Freunde Abrahams. Mit dem gehaltvollen Text harmoniert die prachtvolle Aufmachung, die der Künstler Shahid Alam (siehe zu seinem Ausstellungsprojekt „Gott ist schön“) mit 16 Bildtafeln seiner Original-Kalligraphien ausgestattet hat. Ein Buch und ein Kunstwerk in einem.

Patmos Verlag, Ostfildern 2021, 431 Seiten, ISBN 978-3-8436-1246-3, 49,00 €

Karl-Josef Kuschel
Ein ungeheurer Stoff für einen Schriftsteller:
Meisterwerke einer Begegnung von Bibel und Literatur im 20. Jahrhundert

Karl-Josef Kuschel, der „Gründervater der akademischen Disziplin von ‚Theologie und Literatur‘ im deutschsprachigen Bereich“ (Klappentext), untersucht ein weites Spektrum von „Meisterwerken einer Begegnung von Bibel und Literatur im 20. Jahrhundert“. Anhand so verschiedener Autoren wie unter anderem Thomas Mann und Luise Rinser, Lew Tolstoi, Amos Oz und Stefan Heym und ihrer Werke, geht er den Themen Auferstehung, Brudermord, Töten im Namen Gottes sowie Figuren wie Hiob, Judas, Judith, Maria Magdalena und vielem mehr nach.

Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2020, 320 Seiten, ISBN 978-3-4600-8633-3, 26,95 €

 

Martin Rötting (ed.)
Houses of Religion
Visions, Formats and Experiences

Aus der von der Initiative für ein Haus der Kulturen und Religionen in München (der die Freunde Abrahams angehören) 2019 ausgerichteten, internationalen Tagung ist dieser Band hervorgegangen, der ganz unterschiedliche Projekte und Erfahrungen aus unter anderem Berlin, London, Jerusalem, New York, Taipeh vorstellt. Soviel dürfte dabei klar werden: multireligiöses Bauen wird unsere Zukunft mitgestalten.

Lit-Verlag, Wien/Zürich 2021, 218 Seiten, ISBN 978-3-643-91203-9, 26,90 € (in englischer Sprache)

 

Mit vorausschauendem Blick auf eine für Sommer 2022 geplante Vortragsreihe zum Thema „Homosexualität und Religion“:

Fatima Daas: „Die jüngste Tochter“

von Eva Straub-Kölcze

„Ich heiße Fatima“, so lautet der erste Satz des Romans. Und so fangen auch fast alle übrigen Kapitel des Buches an, gefolgt von verschiedenen Attributen wie „ich bin Muslimin“, „ich bin Asthmatikerin“, „ich bin Französin“. In Anekdoten und Situationsbeschreibungen erscheinen fragmentarisch immer neue Facetten von Fatimas Identität.

Fatima Daas ist das Pseudonym der 25-jährigen Autorin und zugleich der Name der Protagonistin. In ihrer algerischen Familie ist sie die Einzige, die in Frankreich geboren ist. Und sie ist auch die Einzige, die um ihre sexuelle Identität ringt, denn die Eigenschaften „muslimisch“ und „lesbisch“ gehen in Fatimas migrantischer Lebenswelt der Pariser Banlieue nicht zusammen. Am Ende des Buchs ist die Suche nach Identität noch zu keinem Ende gekommen.

Der Koran und seine Gebetstexte bilden im Roman sprachliche Kontrapunkte zu Rap-Stil, Jugendsprache und auch zur französischen Literaturtradition. Dadurch entsteht ein ganz eigener Sprachrhythmus – prägnant, schlicht und intensiv. Das Buch nimmt einen auf direkte und ehrliche Weise mit, lässt mitfühlen, ohne in emotionale Abgründe einzutauchen.

Claassen Verlag Berlin 2021, 192 Seiten, ISBN 9783546100243, 20,00 €. Übersetzung: Sina de Malafosse.
 

20 Jahre Blätter Abrahams!

Alle bisher erschienen 20 Hefte der „Blätter Abrahams – Beiträge zum interreligiösen Dialog“, sind open access, also kostenfrei, online über die Website der Freunde Abrahams (www.freunde-abrahams.de/blaetter-abrahams) verfügbar. Ein Gesamt­ver­zeich­nis über alle bisherigen Beiträge sowie ein Autorenverzeichnis ist Heft 20 (2020) angefügt.

Wir wollen aber bewusst weiterhin auch an der gedruckten Ausgabe festhalten. Dabei sind wir auf Ihre Unterstützung angewiesen. Wir bitten, die Blätter Abrahams zielgerichtet durch Spenden zu unterstützen. Gerne werden Spender namentlich oder auf Wunsch anonym in der Zeitschrift genannt.

Jedes gedruckte Heft ist einzeln zum Preis von 10,- € bzw. 5,- € (für Mitglieder) oder alle zwanzig Hefte zusammen für 160,- € bzw. 80,- € (für Mitglieder), zzgl. Versand, erhältlich. Mitglieder erhalten je 1 Exemplar nach Erscheinen gratis. In der Regel bitten hierzu wir um Abholung bei den Veranstaltungen.


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Texte zum Nachdenken – Worte für die Seele

Auf der letzten Seite wollen wir Ihnen Gedichte, Lieder oder kurze Texte zum Nachdenken und für die Seele mitgeben. Für Ihre Anregungen sind wir immer dankbar!

Spruch Allach Tipi Platz; Klaus D. WolfWir, die guten Willens sind
Geführt von Ahnungslosen
Versuchen für die Undankbaren
Das Unmögliche zu vollbringen.
Wir haben so viel mit so wenig
So lange versucht, dass wir jetzt
Qualifiziert sind, fast alles
Mit Nichts zu bewerkstelligen.


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